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Rabe setzte sich auf sein Bett. „Gehen Sie ins Kino. Das ist das beste, um einen Abend ’rumzukriegen. Man weiß nachher nicht mehr, was man gesehen hat; aber man hat wenigstens an nichts gedacht.“

Er zog die Strümpfe aus. Kern sah ihm nachdenklich zu. „Kino“, sagte er. Ihm fiel ein, dass er vielleicht das Mädchen von nebenan dazu einladen könnte. „Kennen Sie die Leute hier im Hotel?“ fragte er.

Rabe legte die Strümpfe auf einen Stuhl und bewegte seine nackten Zehen. „Ein paar. Warum?“ Er blickte seine Zehen an, als hätte er sie noch nie gesehen.

„Hier nebenan die?“

Rabe dachte nach. „Da wohnt die alte Schimanowska. Sie war vor dem Kriege eine berühmte Schauspielerin.“

„Die meine ich nicht.“

„Er meint Ruth Holland, ein junges, hübsches Mädchen“, sagte der Mann mit der Brille, der als dritter im Zimmer wohnte. Er hatte schon eine Weile in der Tür gestanden und zugehört. Er hieß Marill und war ehemaliger Reichstagsabgeordneter. „Nicht wahr, Kern, Don Juan, so ist es doch?“

Kern errötete.

„Sonderbar“, fuhr Marill fort. „Bei den natürlichsten Sachen errötet der Mensch. Bei den gemeinen nie. Wie war das Geschäft heute, Kern?“

„Eine glatte Katastrophe. Ich habe bares Geld verloren.“

„Dann geben Sie noch was dazu. Das ist das beste Mittel, keine Komplexe zu bekommen.“

„Ich bin gerade dabei“, sagte Kern. „Ich will ins Kino gehen.“

„Bravo. Mit Ruth Holland, nehme ich an, nach Ihrer vorsichtigen Fragerei.“

„Ich weiß nicht. Ich kenne sie ja nicht.“

„Man kennt die meisten Menschen nicht. Irgendwann muss man einmal damit anfangen. Immer los, Kern. Mut ist der schönste Schmuck der Jugend.“

„Glauben Sie, dass sie mitgehen wird?“

„Natürlich. Das ist einer der Vorteile unseres beschissenen Lebens. Zwischen Angst und Langerweile ist jeder dankbar, wenn man ihn ablenkt. Also keine falsche Scham! Losgebraust und nicht gezittert!“

„Gehen Sie ins Rialto“, sagte Rabe aus seinem Bett heraus. „Da spielen sie Marokko. Ich habe gefunden, je fremder die Länder sind, desto besser wird man abgelenkt.“

„Marokko ist immer gut“, erklärte Marill. „Auch für junge Mädchen.“

Rabe packte sich seufzend in seine Decke. „Manchmal wollte ich, ich könnte zehn Jahre durchschlafen!“

„Möchten Sie dann auch zehn Jahre älter sein?“ fragte Marill.

Rabe sah ihn an. „Nein“, sagte er. „Dann wären meine Kinder ja schon erwachsen.“

* * *

Kern klopfte an die Tür nebenan. Eine Stimme von drinnen antwortete etwas. Er öffnete die Tür und blieb sofort stehen. Er hatte der Schimanowska ins Auge geblickt.

Sie hatte ein Gesicht wie eine Schleiereule. Die wulstigen Falten waren dicht mit weißem Puder überdeckt und wirkten wie eine gebirgige Schneelandschaft. Tief darin, wie Löcher, saßen die schwarzen Augen. Sie starrte Kern an, als wollte sie ihm im nächsten Augenblick mit ihren Krallen ins Gesicht fliegen. In den Händen hielt sie einen zinnoberroten Schal, in dem ein paar Stricknadeln steckten. Plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht. Kern dachte schon, sie würde auf ihn losstürzen, aber auf einmal glitt eine Art von Lächeln über ihre Züge. „Was wollen Sie, mein junger Freund?“ fragte sie mit pathetischer, tiefer Theaterstimme.

„Ich möchte mit Fräulein Holland sprechen.“ Das Lächeln verschwand wie weggewischt. „Ach so.“ Die Schimanowska blickte Kern verächtlich an und begann, heftig mit ihren Nadeln zu klappern.

Ruth Holland hockte auf ihrem Bett. Sie hatte gelesen. Kern sah, dass es das Bett war, an dem er nachts gestanden hatte. Er fühlte plötzlich eine Wärme hinter seiner Stirn. „Kann ich Sie etwas fragen?“ sagte er.

Das Mädchen stand auf und ging mit ihm auf den Korridor. Die Schimanowska ließ ihnen ein Schnauben wie von einem verwundeten Pferd folgen.

„Ich wollte Sie fragen, ob Sie mit ins Kino wollen“, sagte Kern draußen. „Ich habe zwei Karten“, log er hinzu.

Ruth Holland sah ihn an.

„Oder haben Sie etwas anderes vor? Es kann ja sein…“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nichts vor.“ „Dann kommen Sie doch mit! Wozu wollen Sie den ganzen Abend im Zimmer sitzen?“

„Daran bin ich schon gewöhnt.“

„Um so schlimmer. Ich war nach zwei Minuten schon froh, wieder draußen zu sein. Ich dachte, ich würde aufgefressen.“

Das Mädchen lachte. Sie wirkte plötzlich sehr kindlich. „Die Schimanowska sieht nur so aus. Sie hat ein gutes Herz.“

„Mag sein, aber das sitzt ihr nicht auf den Schultern. Der Film fängt in’einer Viertelstunde an. Wollen wir gehen?“

„Gut“, sagte Ruth Holland, und es schien, als fasse sie damit einen Entschluss.

An der Kasse ging Kern rasch voraus. „Einen Augenblick, ich hole nur die Karten ab. Sie sind hier hinterlegt.“

Er kaufte zwei Billette und hoffte, dass sie nichts gemerkt hatte. Es war ihm gleich darauf aber auch schon egal – die Hauptsache war, dass sie neben ihm saß.

Der Saal wurde dunkel. Die Kasbah[29] von Marrakesch[30] erschien auf der Leinwand, malerisch und von Sonne überflirrt, die Wüste glänzte auf, und der eintönige Klang der Flöten und Tamburine zitterte durch die heiße afrikanische Nacht…

Ruth Holland lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Die Musik fiel über sie wie ein warmer Regen – ein warmer, eintöniger Regen, aus dem sich quälend die Erinnerung hob…

Sie stand am Burggraben von Nürnberg. Es war April. Vor ihr stand in der Dunkelheit der Student Herbert Billing, ein zerknülltes Zeitungsblatt in der Hand.

„Du verstehst, was ich meine, Ruth?“

„Ja, ich verstehe es, Herbert! Es ist leicht zu verstehen.“

Billing zerknitterte nervös das Exemplar des „Stürmer[31]“.

„Mein Name als Judenknecht in der Zeitung! Als Rassenschänder! Das ist der Ruin, verstehst du?“

„Ja, Herbert.“

„Ich muss sehen, wie ich da ’rauskomme. Meine ganze Karriere steht auf dem Spiel. In der Zeitung, das liest jeder, verstehst du?“

„Ja, Herbert. Mein Name steht auch in der Zeitung.“

„Das ist ganz was anderes! Was kann dir das ausmachen? Du darfst doch sowieso nicht mehr zur Universität.“

„Du hast recht, Herbert.“

„Also Schluss, nicht wahr? Wir sind getrennt und haben nichts mehr miteinander zu tun.“

„Nichts mehr. Und nun leb wohl.“

Sie drehte sich um und ging.

„Warte – Ruth – hör doch, einen Moment!“

Sie blieb stehen. Er kam heran. Sein Gesicht war so dicht vor ihr in der Dunkelheit, dass sie seinen Atem spürte. „Hör zu“, sagte er. „Wo gehst du jetzt hin?“

„Nach Hause.“

„Du brauchst doch nicht gleich…“ Er atmete stärker. „Es ist natürlich alles abgemacht, nicht wahr? Das bleibt dann so! Aber du könntest doch… wir könnten… gerade heute abend ist keiner bei mir zu Hause, verstehst du, und wir würden nicht gesehen.“ Er fasste nach ihrem Arm. „Wir brauchen uns ja nicht gerade so zu trennen, so formell meine ich, wir könnten doch noch einmal…“

„Geh!“ sagte sie. „Sofort!“

„Aber sei doch vernünftig, Ruth.“ Er nahm sie um die Schulter.

Sie sah das hübsche Gesicht, das sie geliebt und dem sie gedankenlos vertraut hatte. Dann schlug sie hinein. „Geh!“ schrie sie, während ihr die Tränen herunterstürzten. „Geh!“

Billing zuckte zurück. „Was? Schlagen? Mich schlagen? Du dreckige Judensau willst mich schlagen?“

Er machte Miene, sich auf sie zu stürzen.

„Geh!“ schrie sie gellend.

Er sah sich um. „Halt den Mund!“ zischte er. „Willst mir wohl noch Leute auf den Hals hetzen, was? Könnte dir so passen! Ich gehe, jawohl, ich gehe! Gott sei Dank, dass ich dich los bin!“

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29

Die Kasbah – in Marokko wird als Kasbah eine Burganlage innerhalb der Medina (Altstadt) bezeichnet, die der Sitz des Stadtfürsten war oder aber zum Königspalast ausgebaut wurde

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30

Marrakesch – eine Stadt im Südwesten Marokkos

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31

Stürmer“ – die Nürnberger nationalsozialistische Zeitung (1923)