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„Nein“, sagte Kern.

Steiner lächelte. „Klar. Aber denk mal gelegentlich dran. Vielleicht hilft dir’s.“

Er stand auf. „Ich will los. Zurück. Der Zöllner glaubt nicht, dass ich jetzt kommen werde. Er hat die erste halbe Stunde aufgepasst. Morgen früh wird er wieder aufpassen. Dass ich inzwischen ’rüberrücken könnte, geht nicht in seinen Kopf. Zöllnerpsychologie. Gottlob[23] ist der Gejagte meistens nach einiger Zeit klüger als der Jäger. Weißt du warum?“

„Nein.“

„Weil für ihn mehr auf dem Spiel steht.“ Er schlug Kern auf die Schulter. „Deshalb sind die Juden das schlaueste Volk der Erde geworden. Erstes Gesetz des Lebens: Gefahr schärft die Sinne.“

Er gab Kern die Hand. Sie war groß und trocken und warm. „Mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Ich werde abends öfter im Café Sperle sein. Kannst da nach mir fragen.“

Kern nickte.

„Also mach’s gut. Und vergiss das Kartenspielen nicht. Es lenkt ab, ohne dass man denken muss. Ein hohes Ziel für Leute ohne Bleibe. Du bist nicht schlecht in Jass und Tarock. Im Poker musst du noch mehr riskieren. Mehr bluffen.“

„Gut“, sagte Kern. „Ich werde mehr bluffen. Und ich danke dir auch. Für alles.“

„Dankbarkeit musst du dir abgewöhnen. Nein, gewöhn sie dir nicht ab. Kommst besser damit durch. Ich meine nicht bei den Leuten, das ist gleichgültig. Bei dir. Wärmt dir das Herz, wenn du’s mal sein kannst. Und denk dran: alles besser als Krieg!“

„Und besser als tot.“

„Tot weiß ich nicht. Aber besser als sterben auf jeden Fall. Servus, Baby!“

„Servus[24], Steiner!“

Kern blieb noch eine Zeitlang sitzen. Der Himmel war klar geworden und die Landschaft war voll Frieden. Sie war ohne Menschen.

Kern saß schweigend im Schatten der Buche. Das helle durchscheinende Grün der Blätter bauschte sich über ihm wie ein großes Segel – als triebe der Wind die Erde sanft durch den unendlichen blauen Raum – vorbei an den Signallichtern der Sterne und der Leuchtboje des Mondes.

Kern beschloss zu versuchen, nachts noch bis Pressburg zu kommen und von da nach Prag. Eine Stadt war immer am sichersten. Er öffnete seinen Koffer und nahm das saubere Hemd und ein Paar Strümpfe hervor, um sich umzuziehen. Er wusste, dass es wichtig war, wenn ihm jemand begegnete. Er wollte es auch, um das Gefängnis loszuwerden.

Es war ihm sonderbar zumute, als er nackt im Mondlicht dastand. Er kam sich wie ein verlorenes Kind vor. Rasch nahm er das frische Hemd, das im Grase vor ihm lag, und streifte es über. Es war ein blaues Hemd und das war praktisch, denn es schmutzte nicht so leicht. Im Mondlicht sah es fahlgrau und violett aus. Er nahm sich vor, mutig zu bleiben.

3

Kern kam nachmittags in Prag an. Er ließ seinen Koffer am Bahnhof und ging sofort zur Polizei. Er wollte sich nicht melden; er wollte nur in Ruhe nachdenken, was er tun sollte. Dazu war das Polizeigebäude der beste Platz. Dort streiften keine Polizisten umher und fragten nach Papieren. Er setzte sich auf eine Bank im Korridor. Gegenüber lag das Büro, in dem die Fremden abgefertigt wurden. „Ist der Beamte mit dem Spitzbart noch da?“ fragte er einen Mann, der neben ihm wartete.

„Ich weiß nicht. Der, den ich kenne, hat keinen.“

„Aha! Kann sein, dass er versetzt ist. Wie sind sie denn jetzt hier?“

„Es geht“, sagte der Mann. „Ein paar Tage Aufenthalt kriegt man schon. Aber nachher wird’s schwer. Es sind zu viele hier.“

Kern überlegte. Wenn er ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis erhielt, konnte er beim Komitee für Flüchtlingshilfe für ungefähr eine Woche Eß- und Schlafkarten bekommen, das wusste er von früher her. Wenn er sie nicht bekam, riskierte er, dass man ihn einsperrte und zurück über die Grenze schob.

„Sie sind dran“, sagte der Mann neben ihm.

Kern sah ihn an. „Wollen Sie nicht vorgehen? Ich habe Zeit.“

„Gut.“

Der Mann stand auf und ging hinein. Kern beschloss abzuwarten, was mit ihm passierte, um sich dann zu entscheiden, ob er selbst hineingehen sollte oder nicht. Unruhig wanderte er auf dem Korridor hin und her. Endlich kam der Mann wieder heraus. Kern ging rasch auf ihn zu. „Wie war es?“ fragte er.

„Zehn Tage!“ Der Mann strahlte. „So ein Glück! Und ohne zu fragen. Muss gut gelaunt sein. Oder vielleicht, weil heute nicht so viele da sind. Das letztemal hatte ich nur fünf Tage.“

Kern gab sich einen Ruck. „Dann werde ich es auch versuchen.“

Der Beamte hatte keinen Spitzbart. Trotzdem kam er Kern bekannt vor. Vielleicht hatte er sich den Bart inzwischen abnehmen lassen. Er spielte mit einem zierlichen Federmesser aus Perlmutter und warf einen müden Fischblick auf Kern. „Emigrant?“

„Ja.“

„Aus Deutschland gekommen?“

„Ja. Heute.“

„Irgendwelche Papiere?“

„Nein.“

Der Beamte nickte. Er ließ die Klingen seines Messers zuschnappen und klappte den Schraubenzieher auf. Kern sah, dass in der perlmutternen Schale außerdem noch eine Nagelfeile eingelassen war. Der Beamte begann vorsichtig damit seinen Daumennagel zu glätten.

Kern wartete. Es schien ihm, als wäre der Nagel des müden Mannes vor ihm das Wichtigste auf der Welt. Er wagte kaum zu atmen, um ihn nicht zu stören und ärgerlich zu machen. Er presste nur verstohlen die Hände auf dem Rücken fest aneinander.

Der Nagel war endlich fertig. Der Beamte besah ihn befriedigt und blickte auf. „Zehn Tage“, sagte er. „Sie können zehn Tage hier bleiben. Dann müssen Sie ’raus.“

Die Spannung in Kern löste sich jäh. Er glaubte, er fiele, aber er atmete nur tief. Dann fasste er sich rasch. Er hatte gelernt, den Zufall festzuhalten. „Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich vierzehn Tage haben könnte“, sagte er.

„Das geht nicht. Warum?“

„Ich warte darauf, dass mir Papiere nachgeschickt werden. Dazu muss ich eine feste Adresse haben. Ich möchte dann nach Österreich.“

Kern hatte Angst, im letzten Augenblick noch alles zu verderben; aber er konnte nicht mehr zurück. Er log glatt und schnell. Er hätte ebensogern die Wahrheit gesagt, aber er wusste, dass er lügen musste. Der Beamte dagegen wusste, dass er diese Lügen glauben musste – denn es gab keine Möglichkeit, sie zu kontrollieren. So kam es, dass beide fast glaubten, von der Wahrheit zu reden.

Der Beamte ließ den Schraubenzieher seines Messers zuschnappen. „Gut“, sagte er. „Ausnahmsweise vierzehn Tage. Aber es gibt dann keine Verlängerung.“

Er nahm einen Zettel und begann zu schreiben. Kern sah ihm zu, als schriebe ein Erzengel. Er konnte kaum fassen, dass alles so geklappt hatte. Bis zum letzten Augenblick erwartete er, dass der Beamte in der Kartothek nachsehen und feststellen könnte, dass er schon zweimal in Prag war. Zur Vorsicht gab er deshalb einen anderen Vornamen und falsche Geburtsdaten an. Er konnte dann immer noch behaupten, das damalls sei ein Bruder von ihm gewesen.

Aber der Beamte war viel zu müde, um etwas nachzusehen. Er schob Kern den Zettel hin. „Hier! Sind noch mehr draußen?“

„Nein, ich glaube nicht. Vorhin wenigstens war niemand mehr da.“

„Gut.“

Der Mann zog ein Taschentuch hervor und begann liebevoll die Perlmutterschalen seines Messers zu putzen. Er merkte kaum noch, dass Kern sich bedankte und dann so rasch hinausging, als könne ihm sein Papier noch jetzt wieder abgenommen werden.

Erst draußen vor dem Tor des Gebäudes blieb er stehen und sah sich um. Du süßer Himmel, dachte er überwältigt, du süßer, blauer Himmel! Ich bin zurückgekommen und nicht eingesperrt worden! Ich brauche vierzehn Tage lang keine Angst zu haben, vierzehn volle Tage und vierzehn Nächte, eine Ewigkeit! Gott segne den Mann mit dem Perlmuttermesser! Möge er demnächst eins finden, das noch eine versenkbare Uhr und eine goldene Schere enthält.

Neben ihm vor dem Eingang stand ein Polizist. Kern fühlte nach dem Ausweis in seiner Tasche. Mit einem Entschluss trat er dann auf den Polizisten zu. „Wie spät ist es, Wachtmeister?“ fragte er.

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23

gottlob (veraltend) = Gott sei (Lob und) Dank; glücklicherweise

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24

Servus! (südd., österr.) – verwendet zur Begrüßung oder zur Verabschiedung besonders unter Freunden oder Kollegen