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«Stalin! Ist er schön oder häßlich?«

Und verließ stampfend den Raum.

Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin wurde blaß wie Schafskäse.»Um Gottes willen«, stammelte er,»um Gottes willen, Herr Ingenieur, hier geht es doch um Ästhetik und nicht um Politik!«

Und lief hinter Aszaturow her.

«Mon Dieu, que nous les Russes sont infantils!«stieß Ksenia Sixarulize hervor und zerbrach ihren Bleistift. Worauf sich die Gesellschaft auflöste.

5

Vor dem Institutsgebäude standen die Laternen so dicht beieinander, als hätte die Stadtverwaltung oder ein Politbürosonderausschuß oder wer auch immer sonst in dieser Stadt für das Licht zuständig war sich vorgenommen, eine Metapher für den Geist sinnfällig vorzuführen. Darum herum war es finster, die Straßen waren hohl und leer, keine Autos, keine Pferdegespanne. Die Straßenbahnen stellten ihren Betrieb ein, sobald es dunkel wurde. In den Fenstern der Häuser schimmerte nur wenig Licht. Es war still. Schnee fiel.

Emmy Noether bat Carl, sie nach Hause zu begleiten. Das war nichts Außergewöhnliches. Die Dunkelheit in dieser Stadt war ihr sehr unangenehm. In den Nächten, wenn der Himmel bedeckt war und Mondlicht und Sternenlicht die Erde nicht erreichten, tastete sie sich durch die Gassen um das Institutsgebäude und an den Hauswänden entlang, bis sich ihre Augen einigermaßen an die Finsternis gewöhnt hatten. Nur halb im Spaß hatte sie einmal zu Carl gesagt, sie fürchte, plötzlich in das Gesicht eines Mannes zu greifen. Der Schnee half ihren Augen, sich zurechtzufinden; wenn er allerdings so dicht fiel wie an diesem Abend, konnte es geschehen, daß sogar die Bürger von Moskau in manchen Vierteln ihrer Stadt die Orientierung verloren. Die Brodnikov-Straße war eine knappe halbe Stunde Fußweg vom Institut entfernt, das Hotel Leonjuk bildete den dritten Punkt in einem etwa gleichseitigen Dreieck; Carl hatte also einen längeren Abendspaziergang vor sich, aber daran hatte er sich inzwischen gewöhnt. Emmy Noether zog sich zwei Wollmützen über den Kopf, ihre Hände vergrub sie in geringelten Fäustlingen, die an einer Schnur um ihren Hals hingen. Im Institut trug sie ihre Sommerhalbschuhe, die bequem eingetreten waren, für die Straße besaß sie wasserdichte, wadenhohe Männerstiefel aus Juchtenleder mit Kautschukfußbett. Das Schuhwerk war der Grund, warum man Frau Professor Noether in Moskau immer mit einem Rucksack auf dem Rücken sah, einem deutschen Wandervogelrucksack aus dichtgewebtem Khakileinen. Im Institut trug sie darin ihre Stiefel herum, draußen ihre Halbschuhe. Auf die Stiefel war sie besonders stolz, sie hatte sie sich in Göttingen über Versand von einem Fachgeschäft schicken lassen, hatte sie absichtlich zwei Nummern zu groß gewählt, damit, wie sie Carl während der Bahnfahrt von Berlin nach Moskau auseinandersetzte, sich im Inneren mit Hilfe von drei Paar Wollsocken ausreichend Wärme speichernde Luftkämmerchen bilden könnten. Es waren monströse Knobelbecher,»welche«— so stand in der Reklameanzeige zu lesen, die sie Carl präsentierte, als wäre sie eine vertraglich abgesicherte Garantie —»unter Mithilfe von erfahrenen Feldsoldaten für Jäger entworfen und gebaut wurden, die frühmorgens in feuchter Flur stehen und auf das Wild warten, auf das sich mit desto ruhigerer Hand anlegen läßt, je wärmer die Füße sind«.

Sie gingen dicht nebeneinander durch die engen Gassen zur Poljanka, Carl auf der Häuserseite, Emmy Noether auf der Straßenseite. Sie konnte nicht erkennen, wo eine Tür oder eine Einfahrt das eintönige Dunkel der Wand unterbrach, und das war ihr unheimlich. Ihr Assistent schien zwar nicht besonders stark zu sein, aber groß war er, in seinem gefütterten Mantel wirkte er sogar mächtig, die Pelzmütze täuschte einen breiten Nacken vor und verdeckte die feinen, jungenhaften blonden Haare. (Sie habe ihn, wird sie an diesem Abend bei ihrem ersten» persönlichen «Gespräch zu ihm sagen, anfänglich für jemanden gehalten, dem man Unglück und Grausamkeit niemals zumuten dürfe, weil er sich nicht zu wehren verstehe.) Normalerweise redete sie in Carls Beisein ohne Unterbrechung. Und wenn er sie nachts vom Institut zur Brodnikov-Straße begleitete, redete sie noch mehr als sonst. Daß sie mit Carl an ihrer Seite keine Angst hatte, ließ sie übermütig werden.»Gegen die Dunkelheit«, hatte sie ihn einmal belehrt, als würde sie ihm eine ihrer originellen Lösungen präsentieren,»helfen nur Nachdenken und Kennerschaft. Nur so bekommen die Dinge einen Sinn, und man braucht sie nicht mehr zu fürchten. Habe ich recht?«Sie redete beim Ausatmen und redete beim Einatmen. Sie dachte im Reden. Carls Part war es — und war es immer gewesen —, zuzuhören und ab und zu eine Frage zu stellen. Es hatte ihn immer mit Genugtuung erfüllt, daß seine Gegenwart sie offenkundig zum Denken animierte. Anfangs, in Göttingen, war es ihm mitunter schwergefallen, ihren hurtigen Sprüngen von Ahnung zu Behauptung zu Vermutung zu Beweis zu folgen, bald jedoch kannte er sich in den Räumen ihres Gedankengebäudes gut genug aus, um sich darin nicht zu verirren. (Wenn sie zwei Jahre später mit ihm auf seinen Doktor anstoßen wird, wird sie sagen:»Ihre vorzüglichste Eigenschaft ist das Zuhören. Könnten alle so gut zuhören wie Sie, würde sich das Wissen in der halben Zeit verdoppeln.«) — Heute schwieg sie. In ihrem Schweigen fand er sich nicht zurecht, hatte er sich nie zurechtgefunden.

Das erste Mal war es während eines ihrer Spaziergänge in Göttingen geschehen. Sie war plötzlich, und wie er sich erinnerte, mitten im Gedanken, mitten im Satz, in Schweigen versunken. Er hatte damals gemeint, es sei dies eine Aufforderung an ihn, den von ihr eingeschlagenen Gedankengang zu Ende zu führen; und weil dieser bereits so hell von ihr ausgeleuchtet worden war, war es ihm leichtgefallen und eine Freude gewesen, die Schlüsse zu ziehen, die zwingend aus ihren Thesen gezogen werden mußten, und die Folgerungen miteinander zu verknüpfen. Nun hatte er geredet und geredet und mit den Händen ausgeholt, und als er merkte, daß seine Hände von allein die Gesten seiner Doktorvaterin nachahmten, betonte er diese Gesten sogar noch, denn er war überzeugt, sie könne darin nichts anderes sehen als ein Zeichen seiner Bewunderung und seiner Zuneigung. Sie aber sagte:»Hören Sie jetzt bitte auf damit!«Und ausgerechnet sie sagte:»Kann man denn nicht ein einziges Mal den Mund halten und einfach nur auf die Natur lauschen? Mathematik ist doch bei Gott nicht alles. «Sie waren durch die Schilleranlagen gegangen (vorbei am Haus seiner Tanten), ihr Ziel war der Eulenturm gewesen, von wo aus sie über die Stadt und das Umland schauen wollten. Beim Albanitor, wo die Allee aus Eschen und Nußbäumen begann, hatte er sich noch gedacht: Wir könnten genausogut durch die Gänge des Auditoriengebäudes marschieren, sie kriegt ja gar nichts mit, nicht einen Blick nach links oder rechts gibt sie ab. Er war es doch gewesen, der vorgeschlagen hatte, hinaus in die Natur zu gehen, um unter der Sonne bei frischer Luft» Mathematik zu reden«! Die Spaziergänge waren seine Idee gewesen, gewiß nicht ihre! Jedesmal mußte er sie aufs neue dazu überreden. Und ausgerechnet sie, die sich erst vor wenigen Tagen unten beim Leinekanal von ihm hatte erklären lassen, daß eine Grasmücke nicht ein Insekt, sondern ein Vogel sei, sie behandelte ihn, als wäre er der naturfernste Stubenhocker — er, der Haubenmeise, Kohlmeise, Blaumeise, Schwanzmeise, Tannenmeise, Sumpfmeise, Beutelmeise, Trauermeise ohne geringste Mühe an ihren Stimmen auseinanderhalten, der noch immer jeden Greif am Himmel aus den Augenwinkeln bestimmen, der jeden Vogel an seinem Gelege erkennen konnte! Er war schwer gekränkt gewesen, vor allem wegen des scharfen Tons, mit dem sie ihn zurechtgewiesen hatte, und während des weiteren Spaziergangs hatte er kein Wort mehr gesagt. Und war noch schwerer gekränkt gewesen, weil sie offensichtlich gar nicht merkte, wie sehr sie ihn verletzt hatte. — Ihr Reden und sein Zuhören folgten den Regeln eines ausreichend erprobten Zusammenwirkens; in ihrem Schweigen aber mußte er improvisieren wie Siegfried im Kampf gegen den Tarnkappenträger. Ihre Rede war klar, ihr Schweigen war rätselhaft.