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Anfang April 1935 fand jenes Zusammentreffen in der kleinen Stadt Kinnelon in New Jersey statt, zu dem auch Carl eingeladen war. Die Gastgeber, die die Party veranstalteten, waren ein jüdisches Emigrantenehepaar aus Berlin, erst vor kurzem waren die beiden aus New York ins Landesinnere von New Jersey gezogen; er arbeitete bei der Regierung — oder für die Regierung —, sei persönlich mit Roosevelt bekannt; die Frau — groß, schlank, elegant, in hellem Grau, aschblonde Haare, wie eine Schauspielerin sah sie aus, ihre Stimme war leise und ein wenig sandig — arbeite angeblich ebenfalls für die Regierung. Carl hatte von Anfang an den Eindruck, es gehe hier um mehr als nur darum, eine Party zu Ehren einer deutschen Professorin zu feiern.

Carl war tatsächlich im Eiltempo durch seine Dissertation geritten. Emmy Noether hatte ihm die beste Note dafür gegeben, war aber doch enttäuscht gewesen und hatte damit auch nicht hinter dem Berg gehalten. Seine Arbeit (»Über die Darstellung natürlicher Zahlen durch definite und indefinite quadratische Formen von 2r Variablen«) war ihr zu konventionell, zu wenig ambitioniert, insgesamt zu brav ausgefallen. Sie hatte sich von ihm etwas anderes erwartet. Lieber wären ihr, wie sie sagte, eine ausgestreute Handvoll verstiegener Vermutungen gewesen, für die es zwar nicht so gute Noten gegeben, die aber zu weiteren Spekulationen gereizt hätten, als diese zweifellos kluge, aber letztlich auch feige Sicherstellung von Bröseln. Auch Carl war nicht begeistert von seiner Arbeit, ein» Formelgestrüpp «nannte er sie. Der Kontakt zu Emmy Noether lockerte sich, ihre Beziehung kühlte deutlich ab, gemeinsame Spaziergänge in die Umgebung der Stadt fanden nicht mehr statt. Was doch zu erwarten gewesen wäre, nämlich daß Doktorvaterin und Doktorand wenigstens einmal über ihre gemeinsame Zeit in Moskau gesprochen hätten — nicht ein einziges Mal. Sie waren einander aus dem Weg gegangen während der letzten Wochen in Moskau, und sie gingen einander aus dem Weg in Göttingen.»Allerdings«, so schränkte Carl mir gegenüber ein,»glaube ich heute, es lag ausschließlich an mir. Im Gegenteil will es mir manchmal scheinen, daß sie meine Nähe sogar suchte. Ich sah sie durch die Jüdenstraße gehen, an dem Haus vorbei, in dem ich wohnte, und ich sah sie unter dem Portal der Jacobi-Kirche sitzen und den Spatzen zuhören, die große Freundin der Naturtöne, viel schöner als der heilige Franziskus, nur weil sie hoffte, sie werde mich dort treffen. Es fällt mir bei Gott nicht schwer, mir auszudenken, was in ihr vorging: Sie wollte sich nicht aufdrängen. Er hat in Moskau eine doppelte Portion Noether abgekriegt, und nun will er sich entwöhnen. Das wird sie sich gedacht haben. Daß ich eben doch so ein falscher Fünfziger sei, der beleidigt ist, wenn man ihm nicht schmeichelt. Hätte ich ihr sagen sollen, daß mich die Mathematik nur noch wenig interessierte? Ich dachte, das würde sie mehr treffen als jede persönliche Animosität. Was für ein engherziger Unsinn! Wenn es wahr ist, daß ich mich leichtfertig aus ihrem Herzen katapultiert habe, so tut es mir sehr leid, so tut es mir auch nach siebzig Jahren noch sehr, sehr leid. «Er habe» Hirnschwerstarbeit «leisten müssen, um nicht dauernd an» den Moskauer Kasus «zu denken, und jedesmal, wenn er sie gesehen oder schon wenn er nur ihr Lachen durch das Auditoriengebäude habe schallen hören, sei er in dieser Arbeit, die seine wahre Doktorarbeit gewesen sei, zurückgeworfen worden auf das Vorsortieren der Prämissen. Er blieb nicht einen Tag länger als nötig in Göttingen, packte seine Sachen, sobald ihm seine Papiere ausgehändigt worden waren, und kehrte nach Wien zurück — übrigens, was er sich ebenfalls noch heute vorwerfe, ohne sich von» einem gewissen Mädchen «zu verabschieden, dessen Name er, was er sich doppelt vorwerfe, vergessen habe.

«Verabschiedet habe ich mich von meinem Freund Eberhard Hametner. Ich war in Versuchung gewesen, ihm alles zu erzählen. Und daß ich meine Höllenfahrt in gewisser Weise ihm zu verdanken hatte. Ich habe es nicht getan. Ich habe ihm nicht einmal meine Eindrücke von der Realität des Kommunismus geschildert. Das war sicher ein Fehler. Vielleicht hätte das ja bewirkt, daß er nach Hitlers Machtergreifung nicht ausgerechnet nach Charkow emigriert wäre. Er hat es überlebt. Gut bekommen ist es ihm nicht. Eine Zeitlang ist er drüben gehätschelt worden, war sogar Mitherausgeber einer wissenschaftlichen Zeitschrift in deutscher Sprache, die großzügig mit Mitteln ausgestattet war. Im Zuge des immer paranoider werdenden Sowjet-Patriotismus wurde er der Vergehen der Sabotage und Spionage angeklagt, wurde gefoltert und eingesperrt und schließlich in ein sibirisches Lager verschleppt. Aber, wie gesagt, er hat es überlebt. Und ich bin ihm wieder begegnet. Helen übrigens auch. Sie hieß nicht mehr Abelson, sie war inzwischen Eberhards Frau. Eine gute Frau, wie ich wider Willen zugeben mußte.«

Eine Zeitlang half Carl in Wien als Assistent am Physikalischen Institut mit, Vorlesungspläne zu entwerfen, eine Ordnung für die Institutsbibliothek zu entwerfen, Seminararbeiten zu entwerfen und Seminararbeiten zu korrigieren. Er begann auch, an seiner Habilitation zu werkeln, ohne Freude allerdings und ohne an das Ziel zu glauben. Sein wissenschaftlicher Mentor war der Zahlentheoretiker Philipp Furtwängler, der von Carls Arbeit sicher mehr verstand als Emmy Noether, die ja Algebraikerin war, der ihm aber zu wenig Ernst entgegenbrachte. Überhaupt habe er, erzählte Carl, hier in Wien niemanden gefunden, der — wie seine Göttinger Professorin — felsenfest an die objektive, vom menschlichen Denken und seinen Moden unabhängige Existenz der mathematischen Wirklichkeit glaubte; tatsächlich habe er den Eindruck gehabt, hier fallen Schein und Sein auch in der Mathematik auseinander (was merkwürdig ist, denn zu ebendieser Zeit beherrschte der» Wiener Kreis «mit seinem logischen Positivismus den wissenschaftlichen Diskurs. In anderem Zusammenhang hat mir Carl einmal erzählt, daß er des öfteren zu den berühmten Donnerstagabenden des Zirkels um Moritz Schlick in die Boltzmanngasse eingeladen worden sei, daß er die Diskussionen aber jedesmal als unangenehm und verlogen empfunden habe, weil auf der einen Seite, wenn einer ein Wort mit» Meta…«begonnen habe, den Herren Schlick, Neurath und Waismann die Krallen aus den Augen gesprungen seien in der Erwartung, es gehe mit»…physik «weiter, andererseits weil allein bei der Erwähnung des Namens Wittgenstein dieselben Augen sich in religiöser Verzückung nach oben verdreht hätten. Carclass="underline" »Mit einem einzigen Menschen aus diesem Kreis habe ich ein vernünftiges Gespräch geführt, nämlich mit Kurt Gödel, und der war am Ende seines Lebens in Princeton verrückt genug, einen mathematischen Beweis für die Existenz Gottes führen zu wollen.«).

Der Großvater schlug vor, Carl solle in der Firma als Kompagnon mitarbeiten; er solle seine Intelligenz sozusagen als Kapitaleinlage zur Verfügung stellen. Der alte Mann hatte in der Wirtschaftskrise fast alles verloren —»Ich bin zur Bank«, so stellte er Carl seine finanzielle Situation von 1923 dar,»habe mein gesamtes bares Vermögen abgehoben, bin ins Landtmann gegangen und habe es verfrühstückt«— und beim Börsenkrach 1929 war ihm noch einmal ein großer Brocken abgebrochen. Daß sein Enkel die hohe Kunst des Rechnens auf eine Weise ausübte, die niemandem nützte, hatte er zwar stets respektiert, aber auch für eine nachgerade unverantwortlich snobistische Spielart von Egoismus gehalten. Ohne um Bedenkzeit zu bitten, nahm Carl das Angebot an. Wenigstens so zu tun, als wäre er ein Geschäftsmann, war ihm eine willkommene Abwechslung und Penizillin gegen seine Ziellosigkeit. Er hielt es immerhin für möglich, daß er eines Tages nicht mehr bloß so tun müßte. Das hysterische Europa, sagte er, habe angefangen, ihm gehörig auf die Nerven zu fallen. Er beendete seinen Kontrakt mit der Universität und begab sich auf Reisen, nach Lissabon, nach Kairo und so weiter, wie bereits erwähnt, und schließlich nach New York, wo er einen lukrativen Handel mit Bourbon aufzog, den Jazz kennenlernte und wo er, was nicht von Anfang an seine Absicht gewesen war, fast ein Jahr blieb. — Und wo eines Tages in der Oak Bar des Plaza Hotels ein Mann an seinen Frühstückstisch trat und ihn zu einer Party zu Ehren seiner ehemaligen Professorin einlud; woraufhin ihn am nächsten Tag eine junge Journalistin und ein junger Psychologe namens Abraham Fields in einem melangebraunen Packard abholten und mit ihm gemeinsam hinüber nach Hoboken fuhren und weiter durch New Jersey hinauf nach Kinnelon am Kinnelon-See …