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Emmy Noether stand auf der Veranda, als sie in Kinnelon ankamen. Sie wartete auf ihren ehemaligen Studenten und Assistenten. Die Gäste waren im Haus. Sie hielt eine Hand über den Augen, um ihnen Schatten zu geben, die andere ruhte auf dem weißlackierten Knauf des Geländers. An ihrem Kragen leuchtete eine buttergelbe Stoffrose, die war viel zu groß. Wie sie vor dem hübschen weißen Holzhaus stand, über ihr das Blau des Himmels, neben ihr die mit Kerzen und frischem Laub dekorierten Tischchen, bot sie ein gravitätisches Bild, als posiere sie für ein Gemälde, das den Titel» Amerikanische Freiheit «hätte tragen können. Sie rief seinen Vornamen und streckte ihm ihre kurzen Arme entgegen und bat seine Begleiter, sie einen Augenblick mit ihrem ehemaligen Studenten,»dem besten, den sie je gehabt habe«, allein zu lassen, sie werde sie danach ausgiebig begrüßen und sich selbst auch ausgiebig vorstellen. Carl hatte Abraham Fields und der Journalistin auf der Fahrt an den Weidezäunen New Jerseys entlang von seiner großen Professorin erzählt — die beiden hatten noch nie von ihr gehört —, und er hatte ihr Wesen genau so geschildert, wie es sich im ersten Augenblick vor ihnen präsentierte: impulsiv, umweglos, kauzig und meistens warm. Ihre Freude war so ausgelassen, daß sich Carl schämte, weil vielleicht seine Gefühle, sicher aber nicht seine Fähigkeit, sie zu zeigen, mit ihr mithalten konnten.

«Ich«, bekannte er mir gegenüber,»bin zu leichtfertig mit ihrer Freundschaft umgegangen. Ich habe mich für sie geschlagen, in Göttingen. Nicht in Moskau. Das war etwas anderes gewesen, was mit ihr, wie ich mir bald eingestehen mußte, nur sehr wenig zu tun gehabt hatte. Es dürfte mir noch heute keiner ein böses Wort über sie sagen. Ich habe das Geschenk ihrer Freundschaft beschützt, aber ich habe es nicht angenommen. Margarida mit eingerechnet, denke ich, gab es in meinem Leben keinen Menschen, der besser zu mir gepaßt hätte. Sie ist mir zugeteilt worden, wer kann beweisen, daß es nicht so war? Wenn man uns in Ruhe gelassen hätte, wäre die Schnittmenge unserer Existenzen in Frieden und Gleichklang verblieben. Alles mögliche hätte gefehlt, dem Himmel sei Dank, jeder nur denkbare Konflikt zum Beispiel. Für das, was fehlte, hätten wir einander aber nicht nötig gehabt. Es hat mir an Glauben gemangelt. Ungläubigkeit hänge mit Dürftigkeit geistiger Anlagen zusammen, behauptet Leopardi. Ich denke, er hat recht, dieser ungläubige, anmaßende, redlichen Pessimismus vorschützende, düstere Zyniker, der so viele verführt hat in jener nach Verführung süchtigen Zeit.«

Als sie ihn, an den Unterarmen festhaltend, fragte, wie er es mit ihrer beider Geliebten, der Mathematik, halte, schämte er sich noch mehr, antwortete aber klar und ohne jede Abwehr gegen den Kitsch dieser Analogie:»Ich habe sie verlassen.«

Es schien sie nicht zu überraschen. Sie strich mit ihrem Handrücken über seine Wange, hakte sich bei ihm ein, so gut das bei dem Größenunterschied gelingen konnte, führte ihn zur Tür und rief hinein, die Gäste dürften nun herauskommen, das Wesentliche zwischen ihnen beiden sei absolviert, jetzt habe man Hunger.

Ein gutes Dutzend Leute war der Einladung der Gastgeber gefolgt. Man saß auf der schmalen Veranda, nebeneinander wie im Kino, Blick auf die Straße, Glas in der Hand, Teller auf dem Schoß oder auf einem der Tischchen, Fruchtsaft und Kuchen, kalifornischer Wein und ungarisches Gulasch, ein lauer, duftender Frühlingsabend. Auf der anderen Seite der Straße, etwas eingerückt, standen zwei Häuser, nackt sahen sie aus, mitten auf dem Rasen, kein Baum, kein Strauch. Dahinter war der See, ein glitzerndes Band, das aussah, als würde es auf der Erde liegen und wäre nicht eingebettet in sie. Unter anderem saßen auf der Veranda: ein kieferstarker Physiker aus Boston, der sich von seinem Begleiter alles ins Ohr übersetzen oder kommentieren ließ; eine Professorengattin aus Manhattan, schon sehr weiß, die sich im Namen ihres Mannes entschuldigte, der aus irgendeinem Grund verhindert war; ein Physiker und ein Mathematiker aus Princeton, die zusammen mit Emmy Noether gekommen waren und Aktenmappen mitgebracht hatten und sich im Hintergrund hielten, als warteten sie auf ihren Auftritt; und schließlich zwei Emigrantenehepaare, eines aus München, das andere aus Aachen, und ein junger englischer Offizier in Zivilkleidung, der sich aber ohne Umschweife als Mitglied der Royal Air Force vorstellte —»Major Rupert Prichett«.

Für Emmy Noether war der mittlere Tisch reserviert, damit keiner außer Hörweite von ihr säße. Die Gastgeber können sie noch nicht lange kennen, schloß Carl daraus, denn sonst würden sie ja auch ihre Stimme kennen und wüßten, daß diese Sorge vollkommen überflüssig war. Sie bestand darauf, daß Carl neben ihr sitze. Während des Essens bedrängten sie die Gäste mit Fragen. Sie wollten wissen, wie das Leben in Deutschland sei. Ob es überhaupt noch Juden in Deutschland gebe oder ob alle bereits das Land verlassen hätten, fragte der Physiker aus Boston auf englisch, sein Begleiter übersetzte ins Deutsche, was bestimmt nicht nötig war. Die weiße Professorengattin fragte, ob es wahr sei, was man so höre, nämlich daß Hitler die Juden gegen die Radikalen in seiner eigenen Partei in Schutz nehme, daß er viele seiner eigenen Leute sogar habe hinrichten lassen, weil sie den Juden Leid angetan hätten. Die New Yorker Journalistin, selbst» eine Linke«, wie sie auch bei dieser Gelegenheit betonte, wollte wissen, inwieweit sich Deutschlands Kommunisten von den Nationalsozialisten unterschieden, ob es die Kommunistische Partei in Deutschland heute überhaupt noch gebe oder ob sie inzwischen mit der Nazipartei verschmolzen sei. Emmy Noether antwortete:»Ich bin erst seit einigen Monaten in Amerika. In Amerika weiß man mehr über Deutschland als in Deutschland. Fragen Sie mich in einem Jahr, dann werde ich alles wissen.«

Beim Kaffee geschah, was diese Party für Carl, wie er sich ausdrückte,»zu einer titanischen Sensation für sein Herz und seinen Kopf «werden ließ: Emmy Noether wandte sich ihm zu, legte ihre Hand auf seine Schulter und fragte:»Sie erinnern sich doch noch an Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin?«

Nach sechs Jahren fegte die russische Paranoia wieder durch seinen Kopf: Was, wenn diese Party in Wahrheit veranstaltet worden war, um ihn zu überführen? Wer sind all diese Leute in Wahrheit? Wer war der Mann, der ihn im Plaza beim Frühstück gestört hatte? Warum um Himmels willen hatte er ihn nicht aufgefordert, sich auszuweisen? Wie konnte dieser Mann behaupten, er kenne ihn aus Göttingen, sei mit ihm gemeinsam in Seminaren gesessen? Er war deutlich älter. So einer wäre doch aufgefallen. In den Seminaren von Frau Professor Noether saßen selten mehr als fünfzehn Studenten. Außerdem: Woher wußte dieser Mann, daß er in New York war, daß er im Plaza abgestiegen war, daß er nicht wie die anderen Gäste im Breakfast room, sondern in der Oak Bar frühstückte?

Noch ehe er seine Fassung wieder gefunden hatte, plauderte Emmy Noether in harmlosem Ton weiter:»Ich habe ihn erst vor wenigen Tagen getroffen.«

«Wen haben Sie getroffen?«

«Lawrentij Sergejewitsch. Er hat mich am College besucht, stellen Sie sich vor! Irgendwie hat er es herausgeschafft aus dem Paradies der Werktätigen, über Estland, Lettland, Finnland, Schweden, zusammen mit einem Waggon Antiquitäten, dieser Tausendsassa. Anschließend an meine Stunde haben wir ein Eis gegessen. Er ist ein charmanter Kerl, natürlich ein heilloser Aufschneider. Und leider einer, der sich dauernd beim Angeben erwischen läßt. Aber so gescheit! Er hat sich nach Ihnen erkundigt, Carl Jacob. Sie beide haben sich ja besonders gut verstanden, hatte ich immer den Eindruck.«