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Paulo Coelho

Am Ufer des Rio Piedra

saß ich und weinte

Und doch ist die Weisheit

gerechtfertigt worden

von allen ihren Kindern.

Lukas, 7:35

Für I.C. und S.B., deren Liebe mich das weibliche Antlitz Gottes sehen ließ; Monica Antunes, Gefährtin der ersten Stunde, die mit ihrer Zuneigung und Begeisterungsfähigkeit das Feuer über die ganze Welt verbreitet; Paulo Rocco für die Fröhlichkeit, mit der wir gemeinsam kämpften, und für die Würde der Kämpfe, die wir gemeinsam ausfochten; Matthew Lore, weil er nicht eine einzige Zeile des ›I Ging‹ vergessen hat: »Beharrlichkeit ist günstig.«

Am Ufer des Rio Piedra…

… saß ich und weinte. Alles, was in die Wasser dieses Flusses fällt – die Blätter, die Insekten, die Federn der Vögel –, verwandelt sich in seinem Bett zu Steinen, heißt es in der Legende. Wenn ich mir doch das Herz aus der Brust reißen und es in seinen Lauf werfen könnte, dann hätten der Schmerz und die Sehnsucht ein Ende, und es gäbe keine Erinnerungen mehr.

Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte. Die Winterkälte ließ mich die Tränen auf meinem Gesicht spüren, die sich mit dem an mir vorbeiströmenden eisigen Wasser vermischten.

Irgendwo mündet dieser Fluß in einen anderen, dann einen weiteren, bis fern von meinen Blicken und meinem Herzen all diese Wasser im Meer aufgehen.

Wenn doch meine Tränen so weit fließen könnten, daß der, den ich liebe, nie erfährt, daß ich um ihn geweint habe. Wenn doch meine Tränen so weit fließen könnten, weil ich erst dann den Rio Piedra vergessen würde, das Kloster, die Kirche in den Pyrenäen, den Nebel, die Wege, die wir gemeinsam gingen.

Dann würde ich die Straßen, die Berge und die Felder meiner Träume vergessen – meiner Träume, die mir damals nicht bewußt waren.

Ich erinnere mich an meinen magischen Augenblick, diesen Moment, in dem ein Ja oder ein Nein unser ganzes Leben verändern können. Mir kommt es so vor, als läge er schon lange zurück, und doch ist erst eine Woche vergangen, seit ich dem, den ich liebe, wiederbegegnet bin und ihn dann verloren habe.

An den Ufern des Rio Piedra habe ich diese Geschichte aufgeschrieben. Meine Hände waren steif vor Kälte, meine Beine vom Sitzen wie abgestorben, und ich mußte immer wieder innehalten.

»Versuche zu leben. Zurückblicken ist etwas für die Alten«, sagte er. Vielleicht läßt uns die Liebe vorzeitig altern oder hält uns jung, wenn die Jugend bereits vorüber ist. Doch wie sollte ich mich an all diese Augenblicke nicht erinnern? Ich will die Traurigkeit in Sehnsucht, die Einsamkeit in Erinnerung verwandeln, nur darum schreibe ich, damit ich, wenn alles erzählt wäre, die Geschichte in den Rio Piedra werfen könnte, so, wie mir die Frau riet, die mich bei sich aufgenommen hat. Dann könnte das Wasser – wie eine Heilige einmal gesagt hat – das löschen, was das Feuer geschrieben hat.

Alle Liebesgeschichten sind gleich.

Wir hatten unsere Kindheit und Jugend miteinander verlebt. Er ging fort, verließ das Städtchen wie alle jungen Burschen. Er sagte, er wolle die Welt kennenlernen, seine Träume reichten über die Felder von Soria hinaus.

Mehrere Jahre hörte ich nichts von ihm. Dann erhielt ich hin und wieder einen Brief, doch das war alles – denn in die Wälder und die Straßen unserer Kindheit kehrte er nie wieder zurück.

Nach dem Abschluß der Schule ging ich nach Saragossa – und entdeckte, daß er recht hatte. Soria war eine Kleinstadt, und ihr einziger berühmter Dichter hatte gesagt, ein Weg sei dazu da, ihn zu beschreiten. Ich fing an zu studieren, hatte einen festen Freund. Ich bereitete mich auf die Prüfung zur Aufnahme in den öffentlichen Dienst vor, legte sie jedoch nie ab. Ich arbeitete als Verkäuferin, bezahlte von dem Gehalt mein Studium, fiel durch die Abschlußprüfung, trennte mich von meinem festen Freund.

Ich bekam dann häufiger Briefe von meinem Jugendfreund – und die Briefmarken aus anderen Ländern machten mich neidisch. Er war der Ältere, der alles wußte, der durch die Welt reiste, seine Flügel wachsen ließ – während ich versuchte, Wurzeln zu schlagen.

In einem Brief sprach er dann plötzlich von Gott, und die Briefe, die folgten, kamen immer aus demselben Ort in Frankreich. In einem sprach er davon, daß er ins Priesterseminar eintreten und sein Leben dem Gebet weihen wollte. Ich schrieb ihm zurück, bat ihn, noch ein wenig zu warten, noch ein wenig seine Freiheit zu genießen, bevor er sich endgültig entschied. Als ich meinen Brief noch einmal durchlas, zerriß ich ihn: Wer war ich denn schon, um ihm etwas über Freiheit und Verpflichtung zu sagen. Er wußte um diese Dinge, nicht ich.

Eines Tages erfuhr ich, daß er Vorträge hielt. Es überraschte mich, denn er war noch zu jung, um irgend etwas zu lehren. Vor zwei Wochen aber schickte er mir dann eine Karte und teilte mir mit, daß er vor einer kleinen Gruppe in Madrid reden würde und großen Wert darauf lege, daß ich auch zugegen sei.

Ich reiste die vier Stunden von Saragossa nach Madrid, weil ich ihn wiedersehen wollte. Ich wollte ihm zuhören. Wollte mich mit ihm in eine Bar setzen, mich an die Zeiten erinnern, in denen wir zusammen spielten und glaubten, die Welt sei zu groß, als daß man sie je ganz kennenlernen konnte.

Samstag, 4. Dezember 1993

Der Vortrag fand in einem förmlicheren Rahmen und vor mehr Leuten statt, als ich erwartet hatte. Ich konnte es mir nicht erklären.

›Wer weiß, vielleicht ist er berühmt geworden‹, dachte ich. In seinen Briefen hatte er mir nichts davon erzählt. Ich hätte gern mit den anderen Zuhörern gesprochen, sie gefragt, warum sie gekommen waren, doch ich traute mich nicht.

Als ich ihn hereinkommen sah, war ich überrascht. Er wirkte anders als der Junge, den ich gekannt hatte – was nicht verwunderlich war, in elf Jahren verändert man sich eben. Er war schöner, und seine Augen leuchteten.

»Er gibt uns zurück, was unser war«, sagte eine Frau neben mir.

Ein merkwürdiger Satz.

»Was gibt er zurück?« fragte ich.

»Was uns geraubt wurde. Die Religion.«

»Nein, er gibt sie uns nicht zurück«, sagte eine jüngere Frau, die rechts neben mir saß. »Man kann uns nicht zurückgeben, was uns sowieso gehört.«

»Und was machen Sie dann hier?« fragte die erste Frau ungehalten.

»Ich will ihn hören. Will erfahren, was die Leute hier denken, denn einmal haben sie uns schon verbrannt, und sie könnten es wieder tun.«

»Er ist ein einsamer Rufer«, sagte die Frau, »er tut, was er kann.«

Die junge Frau lächelte ironisch, wandte sich nach vorn und beendete so das Gespräch.

»Für einen Seminaristen ist das sehr mutig«, fuhr die Frau fort und sah mich Zustimmung heischend an. Ich begriff überhaupt nichts, schwieg, und die Frau ließ es dabei bewenden. Die junge Frau neben mir zwinkerte mir komplizenhaft zu.

Doch ich schwieg aus einem anderen Grund. Mir ging durch den Kopf, was die Dame gesagt hatte. Sie hatte ihn Seminarist genannt.

Das konnte nicht sein. Er hätte es mir gesagt. Er begann zu sprechen, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. ›Ich hätte mich besser anziehen sollen‹, dachte ich und verstand selbst nicht, warum ich mir darüber so viele Gedanken machte. Er hatte mich im Publikum bemerkt, und ich überlegte, was er dachte: Wie er mich wohl fand? Hatte ich mich sehr verändert?

Seine Stimme war dieselbe. Seine Worte hingegen waren es nicht.

Man muß Risiken eingehen, sagte er. Wir können das Wunder des Lebens nur richtig verstehen, wenn wir zulassen, daß das Unerwartete geschieht.

Jeden Tag läßt Gott die Sonne aufgehen und schenkt uns jeden Tag einen Augenblick, in dem es möglich ist, alles das zu ändern, was uns unglücklich macht. Tag für Tag übergehen wir diesen Augenblick geflissentlich, als wäre das Heute wie gestern und das Morgen auch nicht anders. Aber derjenige, der seinen Tag bewußt lebt, nimmt den magischen Augenblick wahr. Er kann in dem Moment verborgen sein, in dem wir morgens den Schlüssel ins Schlüsselloch stecken, im Augenblick des Schweigens nach dem Abendessen, in den Tausenden von Dingen, die uns alle gleich anmuten. Diesen Augenblick gibt es – den Augenblick, in dem alle Kraft der Sterne uns durchdringt und uns Wunder vollbringen läßt.