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»Ich habe eine Idee«, sagte ich. »Laß uns an einen Ort fahren, an dem wir als Kinder waren. Ich bin niemals dahin zurückgekehrt.«

»Wohin?«

»Laß uns zum Kloster von Piedra fahren.«

Als wir aus dem Hotel kamen, läuteten die Glocken immer noch, und er schlug vor, wir könnten kurz in die Kirche hineingehen.

»Wir haben bislang nichts anderes gemacht«, antwortete ich.

»Kirchen, Gebete, Rituale.«

»Wir haben uns geliebt«, sagte er. »Wir haben uns dreimal betrunken. Wir sind in den Bergen gewandert. Wir haben Strenge und Barmherzigkeit im Gleichgewicht gehalten.«

Ich hatte etwas Dummes gesagt. Ich mußte mich an das neue Leben gewöhnen.

»Entschuldige«, sagte ich.

»Laß uns kurz hineingehen. Diese Glocken sind ein Zeichen.«

Er hatte recht, doch das würde ich erst am nächsten Tag begreifen. Ohne auf das geheime Zeichen zu achten, nahmen wir den Wagen und fuhren in vier Stunden zum Kloster von Piedra.

Die Decke war eingestürzt, und die wenigen Standbilder hatten keine Köpfe mehr – mit Ausnahme einer Statue.

Ich blickte um mich. Dieser Ort hatte gewiß einst sehr willensstarke Menschen beherbergt, die darauf achteten, daß ein jeder Stein sauber und jede Bank von einem der Mächtigen jener Zeit besetzt war.

Doch jetzt lagen vor mir nichts als Ruinen. Die Ruinen, die sich in unserer Kindheit in Burgen verwandelt hatten, in denen wir zusammen spielten und in denen ich meinen verzauberten Prinzen suchte. Jahrhundertelang hatten die Mönche des Klosters von Piedra dieses kleine Stück Paradies für sich behalten. Da es am Grunde einer Senke lag, besaß es das, worum die benachbarten Ortschaften betteln mußten: Wasser. Hier hatte der Rio Piedra Dutzende von Wasserfällen und Seen gebildet und so dazu beigetragen, daß ringsumher eine überbordende Vegetation entstanden war.

Doch nur wenige hundert Meter weiter, am Ausgang der Schlucht, herrschten Dürre und Trostlosigkeit. Der Fluß wurde, kaum hatte er die Senke verlassen, wieder zu einem kleinen Rinnsal, als wäre dort schon seine ganze Jugend und Kraft aufgebraucht.

Die Mönche wußten das und ließen sich das Wasser, das sie ihren Nachbarn verkauften, teuer bezahlen. Unzählige Kämpfe zwischen den Priestern und den umliegenden Dörfern prägten die Geschichte des Klosters.

Schließlich diente das Kloster von Piedra während eines der vielen Kriege, die Spanien erschütterten, als Kaserne. Pferde liefen durch das Hauptschiff, Soldaten kampierten zwischen den Bänken, erzählten sich dort schlüpfrige Witze und schliefen mit den Frauen aus den Nachbardörfern. Die wenn auch späte Rache war gekommen. Das Kloster wurde geplündert und zerstört.

Niemals erhielten die Mönche dieses Paradies zurück.

Während eines der vielen vor Gericht ausgefochtenen Kämpfe sagte jemand, daß die Bewohner der benachbarten Ortschaften darin ein Gottesurteil sahen. Christus hatte gesagt: »Gebt dem zu trinken, den es dürstet«, und die Pater hatten sich diesen Worten gegenüber taub gestellt. Dafür hatte Gott die vertrieben, die sich für die Herren der Natur gehalten hatten.

Und vielleicht war deshalb die Kirche eine Ruine geblieben, obwohl der größte Teil des Klosters wiederaufgebaut und zu einem Hotel umgewandelt worden war. Die Nachkommen der Bevölkerung der umliegenden Dörfer hatten nie vergessen, welch hohen Preis ihre Vorfahren für etwas hatten zahlen müssen, das die Natur umsonst schenkt. »Wen stellt das einzige Standbild dar, das noch einen Kopf hat?«

»Die heilige Teresa von Avila«, antwortete er. »Sie ist mächtig.

Trotz aller Rachegelüste, die Kriege mit sich bringen, hat niemand gewagt, Hand an sie zu legen.«

Und er nahm mich bei der Hand, und wir gingen hinaus. Wir wandelten durch die endlosen Flure des Klosters, gingen breite Holztreppen hinauf und sahen die Schmetterlinge in den Innenhöfen. Ich erinnerte mich an jede Einzelheit dieses Klosters, denn dort war ich in meiner Kindheit gewesen, und die weit zurückliegenden Erinnerungen scheinen oft lebendiger zu sein als die kürzlich erworbenen.

Erinnerung. Der ganze letzte Monat schien wie alles vor dieser Woche einem anderen Leben anzugehören. Einer Epoche, in die ich nie wieder zurückkehren wollte, weil ihre Stunden nicht von der Hand der Liebe berührt worden waren. Ich fühlte mich so, als hätte ich jahrelang immer denselben Tag gelebt, als wäre ich immer gleich aufgewacht, hätte immer dasselbe getan und immer dieselben Träume gehabt.

Ich erinnerte mich an meine Eltern, an die Eltern meiner Eltern und an viele Freunde. Ich erinnerte mich daran, wieviel Zeit ich damit verbracht hatte, für etwas zu kämpfen, was ich nicht wirklich wollte.

Warum hatte ich das getan? Ich fand keine Erklärung. Vielleicht war ich zu faul gewesen, an andere Wege zu denken. Vielleicht war es die Angst gewesen, was die anderen denken könnten.

Vielleicht weil es zu anstrengend war, anders zu sein. Vielleicht weil der Mensch dazu verdammt war, in die Fußspuren der vorangegangenen Generation zu treten, bis – und da erinnerte ich mich an den Klostervorsteher – eine bestimmte Anzahl von Menschen beginnt, sich anders zu verhalten.

Dann erst verändert sich die Welt, und wir verändern uns mit ihr.

Doch ich wollte nicht mehr so sein. Das Schicksal hatte mir zurückgegeben, was mir gehörte, und jetzt bot es mir die Möglichkeit, mich selbst zu verändern und dabei mitzuhelfen, die Welt zu verändern.

Ich dachte wieder an die Berge und die Bergsteiger, die wir auf unserer Wanderung getroffen hatten. Sie waren jung gewesen und bunt gekleidet, damit man sie fand, falls sie sich im Schnee verirrten, und sie kannten den Weg zum Gipfel genau.

An den Steilwänden waren schon Aluminiumschlaufen angebracht, sie mußten nur noch ihre Haken einklinken, um sich anzuseilen und sicher oben anzukommen. Sie waren zu einem Feiertagsabenteuer aufgebrochen und würden mit dem Gefühl an ihre Arbeitsplätze zurückkehren, die Natur herausgefordert und besiegt zu haben.

Doch sie machten sich etwas vor. Abenteurer waren diejenigen gewesen, die als erste beschlossen hatten, die Wege zu erkunden. Einige hatten es nicht einmal bis auf halbe Höhe geschafft und waren in Felsspalten gestürzt. Anderen waren die Finger abgefroren. Viele wurden nie wieder gesehen. Doch eines Tages schaffte es einer bis auf einen der Gipfel.

Seine Augen sahen als erste jene Landschaft, und sein Herz schlug schneller vor Freude. Er hatte die Gefahren auf sich genommen, und er ehrte mit seinem Sieg alle, die beim Versuch, den Gipfel zu bezwingen, das Leben verloren hatten.

Vielleicht dachten ja die Leute im Taclass="underline" ›Da oben ist doch gar nichts, nur Landschaft, lohnt sich das überhaupt?‹

Doch der erste Bergsteiger wußte, daß es sich lohnte, die Herausforderung anzunehmen und sich ihr zu stellen. Er wußte, daß kein Tag dem anderen gleicht und jeder Morgen sein eigenes Geheimnis besitzt, den magischen Augenblick, in dem alte Welten unter- und neue Sterne aufgehen.

Der erste Mensch, der jene Berge bestieg, muß sich die gleiche Frage gestellt haben, als er tief unten die kleinen Häuser mit ihren rauchenden Schornsteinen sah: »Ihre Tage gleichen einander, lohnt sich das überhaupt?«

Heute sind die Berge erobert, die Astronauten auf dem Mond gewesen, es gibt auf der Erde keine neue Insel zu entdecken – mag sie auch noch so klein sein. Doch die großen Abenteuer des Geistes gibt es noch immer – und eines bot sich mir jetzt.

Es war ein Segen. Der Klostervorsteher hatte nichts begriffen.

Dieser Schmerz tut nicht weh.

Selig sind die, die den ersten Schritt tun. Eines Tages werden die Leute wissen, daß Menschen fähig sind, die Sprache der Engel zu sprechen, daß wir alle die Gaben des Heiligen Geistes besitzen und daß wir Wunder tun, heilen, prophezeien, verstehen können.

Wir wanderten den ganzen Nachmittag in der Schlucht umher und ergingen uns in Kindheitserinnerungen. Heute machte er zum ersten Mal mit; auf unserer Fahrt nach Bilbao hatte er wenig Interesse an Soria gezeigt, aber jetzt fragte er mich nach jedem unserer Freunde, wollte alles genau wissen, ob sie glücklich waren, was sie so machten.