Выбрать главу

›Wie lange schon hat mich niemand so behandelt‹, dachte ich.

Wir klopften an die erste Tür. Die Frau sagte, sie vermiete keine Zimmer. Bei der zweiten Tür öffnete niemand. Bei der dritten empfing uns ein freundlicher Alter, doch als wir uns das Zimmer ansahen, stand dort nur ein Doppelbett. Ich wollte nicht.

»Vielleicht fahren wir besser in eine größere Stadt«, schlug ich vor.

»Wir werden schon ein Zimmer bekommen«, antwortete er.

»Kennst du die Übung mit dem Anderen? Sie gehört zu einer vor hundert Jahren geschriebenen Geschichte, deren Autor –« »Vergiß den Autor und erzähl mir die Geschichte«, bat ich ihn, während wir über den einzigen Platz von Saint-Savin gingen.

Ein Mann trifft einen alten Freund, der erfolglos versucht hatte, es im Leben zu etwas zu bringen. ›Ich werde ihm ein bißchen Geld geben‹, denkt er. Doch er erfährt noch in derselben Nacht, daß sein alter Freund reich war und beschlossen hatte, alle Schulden zurückzubezahlen, die er in den Jahren gemacht hatte.

Die beiden gehen in eine Bar, die sie früher immer gemeinsam besucht hatten, und er gibt eine Runde aus. Als er gefragt wird, wie er solchen Erfolg haben konnte, antwortet er, daß er bis vor einigen Tagen der Andere gewesen sei.

»Wer ist der Andere?« fragen sie ihn.

»Der Andere ist der, den sie mich zu sein gelehrt haben, der ich aber nicht bin. Der Andere glaubt, daß der Mensch sein ganzes Leben lang nur daran denken muß, wie er so viel Geld zusammenbekommt, daß er nicht Hungers stirbt, wenn er alt ist.

Er denkt so viel und macht so viele Pläne, daß er erst, als seine Tage auf Erden schon gezählt sind, entdeckt, daß er lebt. Doch da ist es schon zu spät.«

»Das bist du, nicht wahr?«

»Ich bin wie jeder andere, wenn ich auf mein Herz höre. Ein Mensch, der staunend die Mysterien des Lebens betrachtet, ist offen für die Wunder; das, was er tut, löst Freude und Begeisterung in ihm aus. Nur der Andere läßt ihn aus Angst, enttäuscht zu werden, nicht handeln.

»Aber es gibt doch das Leiden«, sagen die Leute in der Bar.

»Es gibt Niederlagen. Niemand ist gegen sie gefeit. Deshalb ist es besser, im Kampf um seine Träume ein paar Schlachten zu verlieren, als besiegt zu werden, ohne zu wissen, wofür man kämpft.«

»Ist das alles?« fragen die Leute in der Bar.

»Ja. Als ich das entdeckt habe, bin ich aufgewacht und habe beschlossen, der zu sein, der ich in Wahrheit immer sein wollte.

Der Andere blieb dort in meinem Zimmer und sah mich an, doch ich habe ihn nie wieder hereingelassen, obwohl er immer wieder versucht hat, mich zu erschrecken, mich auf das Risiko aufmerksam zu machen, das ich einging, wenn ich nicht mehr an die Zukunft dachte. In dem Augenblick, als ich den Anderen aus meinem Leben vertrieben habe, hat die Kraft Gottes begonnen, ihre Wunder zu tun.«

›Diese Geschichte hat er bestimmt erfunden. Sie ist zwar hübsch, aber wahr ist sie nicht‹ dachte ich, während wir weiter nach einer Übernachtungsmöglichkeit suchten. Saint-Savin bestand aus nicht mehr als dreißig Häusern, und wenn wir nichts fanden, würden wir genau das tun müssen, was ich vorgeschlagen hatte, nämlich in eine größere Stadt fahren.

Doch mochte er auch noch soviel Begeisterung in sich tragen, mochte der Andere sich längst aus seinem Leben verabschiedet haben, die Bewohner von Saint-Savin wußten nicht, daß sein Traum war, hier zu schlafen, und dachten nicht daran, ihm zu helfen. Doch während er diese Geschichte erzählte, habe ich mich darin gesehen, meine Ängste, meine Unsicherheit, meine Weigerung, das Schöne um mich herum wahrzunehmen, weil morgen schon alles vorbei sein und ich leiden könnte.

Die Götter würfeln und fragen nicht, ob wir mitspielen wollen.

Ihnen ist es gleichgültig, ob du einen Mann, ein Haus, eine Arbeit, einen Traum aufgegeben hast. Die Götter kümmert es wenig, ob in deinem Leben alles seinen Platz hat und ob deine Wünsche durch Arbeit und Beharrlichkeit erfüllt werden. Die Götter scheren sich nicht um unsere Pläne und um unsere Hoffnungen. Irgendwo da draußen im Universum würfeln sie, und irgendwann bist du dran. Ob du gewinnst oder verlierst, ist eine Frage des Zufalls.

Die Götter würfeln und lassen die Liebe aus ihrem Käfig. Diese Kraft kann schöpferisch oder zerstörerisch sein, je nachdem, woher der Wind weht, wenn sie aus ihrem Käfig kommt.

Im Augenblick wehte diese Kraft ihn an. Doch der Wind ist unberechenbar wie die Götter. Und tief in meinem Innern begann ich einige Windstöße zu spüren. Als wollte das Schicksal mir zeigen, daß die Geschichte vom Andern wahr war und das Universum sich immer mit den Träumern verbündet, fanden wir ein Haus, in dem wir bleiben konnten, mit einem Schlafzimmer mit zwei Betten. Als allererstes nahm ich ein Bad, wusch meine Wäsche und zog das T-Shirt an, das ich gekauft hatte. Ich fühlte mich wie neu – und das gab mir Sicherheit.

›Wer weiß, vielleicht mag ja die Andere dieses T-Shirt gar nicht‹, kicherte ich in mich hinein.

Nach dem Abendessen mit den Besitzern des Hauses – auch Restaurants waren im Herbst und im Winter geschlossen – bat er um eine Flasche Wein und versprach, gleich morgen eine neue zu kaufen.

Wir zogen unsere Jacken an, liehen uns zwei Gläser und gingen hinaus.

»Wir könnten uns an den Brunnen setzen«, sagte ich.

Dort ließen wir uns nieder und tranken, um die Kälte und die Spannung zu vertreiben.

»Es scheint, der Andere ist wieder in dich gefahren«, scherzte ich. »Er ist schlechter gelaunt.«

Er lachte.

»Ich habe gesagt, wir werden ein Zimmer finden, und wir haben eins gefunden. Das Universum hilft uns immer im Kampf um unsere Träume, so verrückt sie auch sein mögen. Denn es sind unsere Träume, und nur wir selbst wissen, wieviel Mühe es uns kostet, sie zu träumen.«

Der vom Laternenlicht gelb gefärbte Nebel verhüllte die andere Seite des Platzes.

Ich atmete tief ein. Die Sache duldete keinen Aufschub mehr.

»Wir wollten über die Liebe sprechen«, fuhr ich fort. »Es läßt sich nicht mehr vermeiden. Du weißt, wie es mir in den letzten Tagen ergangen ist.«

›Wäre es nach mir gegangen, dieses Thema wäre nie zur Sprache gekommen. Aber da es nun mal so ist, geht es mir nicht aus dem Sinn.‹ »Lieben ist gefährlich.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »Ich habe schon geliebt. Lieben ist wie eine Droge. Anfangs beschert sie einem Hochgefühl, völlige Hingabe. Am Tag darauf willst du noch mehr. Du bist zwar noch nicht süchtig, doch das Gefühl hat dir gefallen, und du glaubst, es kontrollieren zu können. Du denkst drei Minuten an den geliebten Menschen, doch dann vergißt du ihn drei Stunden lang. Doch ganz allmählich gewöhnst du dich an diesen Menschen und wirst vollkommen abhängig von ihm. Dann denkst du drei Stunden an ihn und vergißt ihn für drei Minuten.

Ist er nicht bei dir, verspürst du die gleichen Entzugserscheinungen wie die Drogensüchtigen. Und genau wie die Drogensüchtigen, die stehlen und sich erniedrigen, um das zu bekommen, was sie brauchen, bist auch du gewillt, alles für die Liebe zu tun.«

»Was für ein gräßliches Beispiel«, sagte er.

Es war wirklich ein gräßliches Beispiel, das nicht zum Wein, zum Brunnen, zu den mittelalterlichen Häusern am Platz paßte.

Wenn er so viele Schritte um der Liebe willen unternommen hatte, mußte er die Gefahren kennen.

»Deshalb müssen wir jemanden lieben, den wir in unserer Nähe haben können«, schloß ich.

Er blickte lange in den Nebel. Offenbar war er nicht mehr auf die gefährlichen Fahrwasser eines Gespräches über die Liebe erpicht. Ich war hart, doch es ging nun einmal nicht anders.

›Lassen wir es dabei bewenden‹, dachte ich. ›Drei Tage Zusammenleben und dazu noch die peinliche Tatsache, daß er mich immer in denselben Kleidern sah, haben ihn wieder zur Räson gebracht.‹ Ich war zwar in meinem weiblichen Stolz gekränkt, doch mein Herz schlug leichter.