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Königliches Kammergericht
Paris 1. Juli 1660
Mit offenem Mund starrte sie auf die Schrift, ohne zu begreifen. In diesem Augenblick öffnete sich das Türchen des Pförtnerhauses um eine Spaltbreite, und das ängstliche Gesicht eines Dieners in abgenutzter Livree wurde sichtbar. Beim Anblick der Kutsche zog er sich hastig wieder zurück, dann öffnete er, sich eines Bessern besinnend, von neuem und kam zögernd heraus.
»Seid Ihr der Pförtner hier?« fragte die junge Frau.
»Ja ... ja, Madame, das bin ich. Baptiste ... und ich erkenne wohl die ... die Kutsche von ... von ... meinem ... meinem Herrn.«
»Hör auf zu stottern, Tölpel«, schrie sie und stampfte mit dem Fuße auf. »Und sag mir rasch, wo Monsieur de Peyrac ist?«
Der Bediente spähte ängstlich um sich. Da niemand von den Nachbarn sich zeigte, schien er sicherer zu werden. Er trat einen Schritt näher, hob die Augen zu Angélique auf und fiel plötzlich vor ihr in die Knie, nicht ohne sich auch noch weiterhin besorgt umzublicken.
»O meine arme junge Herrin!« rief er aus. »Mein armer Herr ... o welch furchtbares Unglück!«
»Aber so sprich doch! Was ist denn?«
Sie schüttelte ihn in wilder Angst an der Schulter.
»Steh auf, Dummkopf! Ich verstehe nichts von all-dem, was du sagst. Wo ist mein Gatte? Ist er tot?«
Der Mann richtete sich mühsam auf und murmelte:
»Es heißt, er sei in der Bastille. Das Palais ist versiegelt. Ich hafte mit meinem Leben. Und Ihr, Madame, seht zu, daß Ihr so rasch wie möglich von hier wegkommt, solange es noch Zeit ist.«
Nach der furchtbaren Angst, die sie befallen hatte, wirkte das Wort Bastille fast beruhigend auf Angélique. Aus einem Gefängnis konnte man entlassen werden. Sie wußte, daß in Paris das gefürchtetste Gefängnis das des Erzbischöflichen Palastes war - es lag unter dem Niveau der Seine, und im Winter konnte man da leicht ertrinken - und daß in den beiden nächsten, im Châtelet und im Hôpital Général, nur Bürgerliche verwahrt wurden. Die Bastille war das Gefängnis für Aristokraten. Trotz gewisser finsterer Legenden, die über die Zellen ihrer sechs dicken Türme umliefen, war es allgemein bekannt, daß ein Aufenthalt zwischen ihren Mauern niemand entehrte.
Angélique stieß einen Seufzer aus und bemühte sich, der Situation ins Auge zu sehen.
»Ich glaube, es ist besser, ich bleibe nicht hier«, sagte sie zu Andijos.
»Ja, ja, Madame, geht so rasch wie möglich«, sagte der Diener beschwörend.
»Zuerst muß ich wissen, wohin. Aber ich habe ja eine Schwester hier in Paris. Ich kenne ihre Adresse nicht, ich weiß nur, daß ihr Gatte Staatsanwalt ist, ein gewisser Maître Fallot. Ich glaube sogar, daß er sich seit seiner Vermählung Fallot de Sancé nennt.«
»Wenn wir zum Justizpalast fahren, wird man uns sicher Auskunft geben können.«
Die Kutsche und ihr Gefolge bewegten sich wieder durch Paris. Angélique sah nicht aus dem Fenster. Diese Stadt, die sie so feindselig empfing, übte keinen Reiz mehr auf sie aus. Florimond weinte. Er zahnte, und vergeblich rieb ihm Margot die Kiefer mit einer Tinktur aus Honig und zerstoßenem Fenchel ein.
Schließlich bekam man die Adresse des Staatsanwalts, der wie viele Beamte nicht weit vom Justizpalast auf der Ile de la Cité wohnte. Die Straße hieß Rue de l’Enfer[4], was Angélique als ein düsteres Vorzeichen erschien. Die Häuser waren dort noch grau und mittelalterlich, mit spitzen Giebeln, spärlichen Fensteröffnungen, Skulpturen und Wasserspeiern.
Das, vor dem die Kutsche schließlich hielt, wirkte kaum minder düster als die anderen, obwohl es drei ziemlich hohe Fenster in jedem Stockwerk aufwies.
Im Erdgeschoß befand sich die Kanzlei, an deren Tür ein Schild befestigt war mit der Aufschrift:
»Maître Fallot de Sancé. Staatsanwalt.«
Zwei Gehilfen, die sich auf der Schwelle rekelten, stürzten auf Angélique zu, kaum daß sie den Fuß auf die Erde gesetzt hatte, und überschütteten sie mit einem Schwall von Worten in einem unverständlichen Kauderwelsch. Schließlich erfaßte sie, daß die Burschen ihr die Kanzlei Maître de Sancés als den einzigen Ort in Paris priesen, wo auf das Gewinnen ihres Prozesses erpichte Leute gut beraten würden.
»Ich komme nicht wegen eines Prozesses«, sagte Angélique. »Ich möchte Madame Fallot besuchen.«
Enttäuscht deuteten sie auf eine Tür zur Linken, die zur Privatwohnung des Anwalts führte.
Angélique betätigte den Türklopfer. Ohne das Verschwinden ihres Gatten hätte sie Hortense gewiß nicht aufgesucht. Sie hatte zu dieser Schwester, deren Wesen von dem ihrigen so verschieden war, nie ein herzliches Verhältnis gehabt. Nun wurde sie sich bewußt, daß sie im Grunde eine gewisse Freude empfand, sie wiederzusehen. Die Erinnerung an die kleine Madelon wob ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Sie gedachte der Nächte, in denen sie, alle drei in ihrem großen Bett eng aneinandergedrängt, die Ohren gespitzt hatten, um etwa die flüchtigen Schritte des Gespensts von Monteloup zu erlauschen, jener alten, weißen Dame, die mit tastender Hand von Raum zu Raum wanderte. Sie waren sogar fest überzeugt gewesen, in einer bestimmten Winternacht gesehen zu haben, wie sie durch ihr Schlafzimmer schritt ...
So wartete sie in einer gewissen Spannung, daß man ihr öffnen kam.
Eine säuberlich gekleidete, dicke Magd in weißem Häubchen führte sie ins Vestibül, und fast zu gleicher Zeit schon erschien Hortense auf der Höhe der Treppe. Sie hatte die Kutsche vom Fenster aus gesehen.
Angélique hatte den Eindruck, daß ihre Schwester im Begriff gewesen war, ihr um den Hals zu fallen; doch alsbald besann sie sich eines anderen und nahm ein zurückhaltendes Wesen an. Im übrigen war es im Vorraum so dunkel, daß man einander kaum sehen konnte. Sie umarmten sich kühl.
Hortense wirkte noch dürrer und größer als früher.
»Meine arme Schwester!« sagte sie.
»Warum nennst du mich >meine arme Schwester<?« fragte Angélique.
Madame Fallot machte eine auf die Magd bezügliche Geste und zog Angélique in ihr Schlafzimmer. Es war ein großer Raum, der zugleich als Salon diente, denn um das Bett mit seinen schönen Vorhängen und der gelben Damastdecke waren zahlreiche Sessel und Schemel sowie Stühle und Bänke gruppiert. Angélique fragte sich, ob ihre Schwester wohl die Angewohnheit hatte, ihre Freunde auf dem Bett liegend zu empfangen, wie es die Preziösen taten. Freilich hatte Hortense früher als geistreich gegolten und sich einer gewählten Sprache befleißigt.
Auch hier war es infolge der farbigen Fenster dunkel, aber bei der herrschenden Hitze war das nicht unangenehm. Die Fliesen wurden durch hier und dort ausgestreute grüne Grasbüschel kühl gehalten. Angélique sog ihren guten, ländlichen Geruch ein.
»Es ist gemütlich bei dir«, sagte sie zu Hortense.
Ihre Schwester verzog keine Miene.
»Versuche nicht, mich durch dein harmloses Gehabe hinters Licht zu führen. Ich weiß über alles Bescheid.«
»Dann hast du Glück, denn ich muß gestehen, daß ich selber nicht im geringsten weiß, was eigentlich vorgeht.«
»Welche Unvorsichtigkeit, dich hier mitten in Paris zu zeigen!« sagte Hortense, indem sie die Augen zum Himmel aufschlug.
»Hör mal, Hortense, fang nicht wieder an, deine Augen zu verdrehen. Ich weiß nicht, ob dein Mann wie ich ist, aber ich entsinne mich, daß ich diese Grimasse nie mit ansehen konnte, ohne dir eine Ohrfeige zu verabfolgen. Jetzt werde ich dir sagen, was ich weiß, und danach wirst du mir sagen, was du weißt.«
Sie erzählte ihr, wie Graf Peyrac plötzlich verschwunden war, während sie sich wegen der Hochzeit des Königs in Saint-Jean-de-Luz befanden. Da die Mutmaßungen gewisser Freunde sie zu der Ansicht gebracht hätten, er sei entführt und nach Paris gebrächt worden, sei sie ebenfalls in die Hauptstadt gereist. Hier habe sie ihr Palais versiegelt vorgefunden und erfahren, ihr Gatte sei höchstwahrscheinlich in der Bastille.