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Das Mädchen war völlig überwältigt und blieb auch dann noch stumm, als sie das kleine Dorf Newbridge schon längst hinter sich gelassen hatten.

»Du bist wahrscheinlich müde und hungrig«, brach Matthew endlich das Schweigen. »Aber es ist nicht mehr weit, nur noch eine Meile.« Mit einem tiefen Seufzer erwachte die Kleine aus ihren Tagträumen. »Oh, Mr Cuthbert«, flüsterte sie, »was war das für eine weiße Pracht, durch die wir da gefahren sind?«

»Hm, du meinst wohl die >Avenue<«, antwortete Matthew nach kurzem Nachdenken. »Hübsch, nicht?«

»Hübsch? Das ist nicht das richtige Wort. Und >schön< ist es auch nicht, beide reichen nicht aus, um es zu beschreiben. Es war wundervoll! Das ist das erste Mal, dass ich etwas gesehen habe, das in meinen Träumen nicht schöner sein könnte. Das hat richtig weh getan, hier« - sie zeigte auf ihre Brust - »aber es war ein höchst angenehmer Schmerz. Haben Sie schon einmal einen solchen Schmerz verspürt, Mr Cuthbert?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Man sollte so einen wundervollen Ort nicht einfach >Avenue< nennen, das ist viel zu nichts sagend. Ich werde ihn . . . Moment mal ... ja, ich werde ihn die >Weiße-Blütentraum-Allee< nennen. Ist das nicht ein wunderbarer Name? - Müssen wir wirklich nur noch eine Meile fahren, bis wir zu Hause sind? Ich bin froh und traurig zugleich. Die Fahrt ist so interessant, von mir aus könnte es immer so weitergehen. Aber ich freue mich auch nach Hause zu kommen. Solange ich denken kann, habe ich noch nie ein Zuhause gehabt. Oh, ist das schön!«

Sie waren gerade auf dem Kamm eines kleinen Hügels angelangt. Unter ihnen lag ein kleiner See, der fast wie ein Fluss aussah, so lang und gewunden zog er sich durch die Wiesen, In der Mitte wurde er von einer Brücke überspannt und zur Küste hin von einer Kette bernsteinfarbener Sandhügel eingerahmt. Große Tannen und Ahornbäume spiegelten sich in seinem Wasser, von den Sümpfen am anderen Ende des Sees war der quakende Gesang der Frösche zu hören. Ein kleines graues Haus ragte aus den Zweigen eines blühenden Obstgartens. Obgleich es noch nicht ganz dunkel war, schien Licht durch eines der Fenster.

»Das ist >Barrys Weihen,<« erklärte Matthew.

»Schon wieder so ein Name, der mir nicht gefällt. Ich werde ihn . .. >See der glitzernden Wasser< nennen. Ja, das ist der richtige Name für ihn! Das kann ich nämlich an dem Schauer erkennen: Immer wenn ein Name genau passt, rieselt mir ein kleiner Schauer den Rücken hinunter. Haben Sie auch schon mal so etwas gespürt?« Matthew verfiel ins Grübeln. »Ja ... doch. Ich kriege immer kalte Rückenschauer, wenn ich die hässlichen weißen Larven im Gurkenbeet sehe. Die kann ich einfach nicht ausstehen.«

»Oh, das kann aber nicht die gleiche Art Schauer sein. Oder finden Sie, dass man Raupen im Gurkenbeet mit dem >See der glitzernden Wasser< vergleichen kann? Weshalb nennen ihn die Leute eigentlich >Barrys Weihen?<«

»Wahrscheinlich, weil Mr Barry dort drüben am See wohnt. Orchard Slope heißt seine Farm. Wenn die großen Bäume dahinter nicht wären, könnte man von hier aus schon Green Gables sehen. Wir müssen nur über die Brücke fahren, es ist noch ungefähr eine halbe Meile.«

»Hat Mr Barry kleine Töchter? Ich meine, nicht richtig klein ... eher so in meinem Alter?«

»Ja, er hat ein elfjähriges Mädchen. Diana heißt es.«

»Oh! Was für ein wunderschöner Name!«

»Naja, ich weiß nicht so recht. Er klingt so heidnisch. Jane oder Mary, das sind gute, vernünftige Namen. Aber als Diana geboren wurde, unterrichtete an der Schule gerade eine Lehrerin, die so hieß, und nach der haben sie die Kleine benannt.«

»Ach, ich wünschte, es hätte so eine Lehrerin gegeben, als ich geboren wurde. Da ist die Brücke ja schon. Ich mache lieber die Augen zu. Ich habe nämlich immer Angst, wenn ich über eine Brücke fahre. Sie könnte ja gerade dann Zusammenstürzen, wenn ich genau in der Mitte bin. Also schaue ich lieber nicht hin. Aber wenn wir in der Mitte sind, muss ich die Augen doch wieder aufmachen, denn wenn die Brücke tatsächlich zusammenstürzt, dann will ich auch sehen, wie sie zusammenstürzt. Das ist bestimmt interessant und ich möchte es nicht verpassen.«

Als sie heil und sicher auf der anderen Seite des Sees angelangt waren, sagte Matthew: »So, jetzt sind wir fast zu Hause, das ist Green Gables, dort...«

»Sagen Sie es mir nicht!«, fiel ihm das Mädchen ins Wort. »Ich will raten. Bestimmt werde ich es erkennen.«

Gespannt sah sie sich um. Die Sonne war schon untergegangen, doch in dem milden Dämmerlicht war die Landschaft noch klar zu erkennen. Im Westen zeichnete sich ein dunkler Kirchturm gegen den Himmel ab. Darunter lag ein kleines Tal, in das sich die Häuser von Avonlea schmiegten. Langsam ließ das Mädchen den Blick von einem Gehöft zum anderen wandern, bis er zuletzt ganz links auf einem Haus ruhen blieb, das fernab von der Straße zwischen blühenden Obstbäumen und lichten Wäldern lag. Über ihm schien — wie ein Zeichen der Verheißung - ein heller, kristallklarer Stern.

»Das ist es, nicht wahr?«, sagte sie und zeigte die Richtung an. Matthew ließ erfreut die Zügel auf den Rücken der Stute klatschen. »Du hast es erraten! Aber wahrscheinlich hat Mrs Spencer dir alles beschrieben, sodass du es leicht erkennen konntest.«

»Nein, das hat sie nicht, wirklich nicht! Nach dem, was sie mir erzählt hat, hätte es auch jedes der anderen Häuser sein können. Ich hatte keine Ahnung, wie es aussieht. Aber sobald ich es gesehen habe, fühlte ich: Das ist mein Zuhause. Ach, ich komme mir vor wie im Traum. Mein Arm ist bestimmt schon ganz blau und grün, weil ich mich heute dauernd kneifen musste. Immer wenn mir auf einmal ganz schlecht wurde und ich dachte: Das ist alles nur ein Traum - da habe ich mich schnell gezwickt, um zu sehen, ob ich auch wirklich wach war. Aber es ist wahr. Ich habe ein Zuhause gefunden.«

Mit einem zufriedenen Seufzer verfiel das Mädchen in tiefes Schweigen. Matthew dagegen wurde es immer mulmiger zu Mute. Er war heilfroh, dass es Marillas Aufgabe sein würde, diesem heimatlosen Kind klarzumachen, dass es sein lang ersehntes Zuhause hier nicht finden würde. Je näher sie Green Gables kamen, desto mehr schreckte Matthew vor dem Augenblick der Wahrheit zurück.

Er dachte dabei nicht an Marilla oder an all die Probleme, die ihnen durch dieses Missverständnis entstehen würden, sondern nur an die Enttäuschung des Kindes. Er hatte das hoffnungsvolle Leuchten in den Augen der Kleinen gesehen und bei dem Gedanken es zum Erlöschen bringen zu müssen, fühlte er sich wie der Komplize bei einem Mord. Ganz ähnlich ging es ihm, wenn er ein Lamm oder ein Kalb oder irgendein anderes unschuldiges kleines Geschöpf töten musste. Als sie in die Einfahrt einbogen, lag der Hof schon im Dunkeln, die Zweige der schlanken Pappeln raschelten im Wind.

»Hören Sie, wie die Bäume im Schlaf reden?«, flüsterte das Mädchen, als es vom Wagen herunterstieg. »Was für schöne Träume sie haben müssen!«

Dann folgte es Matthew ins Haus - die alte Reisetasche mit allem, was es auf dieser Welt besaß, fest in der Hand.

03 - Marilla Cuthbert versteht die Welt nicht mehr

Mit raschen Schritten kam ihnen Marilla durch den Hausflur entgegen. Doch als ihr Blick auf die kleine Gestalt mit den langen roten Zöpfen fiel, blieb sie wie angewurzelt stehen.

»Matthew Cuthbert, wer ist das?«, wollte sie wissen. »Und wo ist der Junge?«

»Da war kein Junge«, sagte Matthew kläglich. »Nur sie.« Dabei zeigte er auf die Kleine. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er sie noch nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte.

»Kein Junge? Aber es muss doch ein Junge da gewesen sein«, empörte sich Manila. »Wir haben Mrs Spencer doch ausrichten lassen, dass sie uns einen Jungen mitbringen soll.«