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»Nein, so etwas habe ich noch nie gehört«, entgegnete Marilla gnadenlos, »und ich glaube auch nicht, dass es in deinem Fall so eintreten wird.«

Anne seufzte. »Eine weitere Hoffnung dahin! Mein Leben ist ein Friedhof voller begrabener Hoffnungen. Diesen Satz habe ich einmal in einem Buch gelesen und seitdem rufe ich ihn mir immer ins Gedächtnis, wenn ich sehr enttäuscht bin und mich trösten will.«

»Ich verstehe allerdings nicht, worin da der Trost liegen soll.« Marilla schüttelte den Kopf.

»Na, es klingt eben so schön, so romantisch, als wäre ich eine Heldin aus irgendeinem Buch, verstehen Sie. Ich liebe alles, was romantisch ist, und >ein Friedhof voller begrabener Hoffnungen ist so ungefähr das Romantischste, was man sich vorstellen kann, finden Sie nicht? Das macht mich dann froh. Fahren wir heute wieder über den >See der glitzernden Wasser<?«

»Über Barrys Weiher fahren wir nicht, falls du den meinst. Wir nehmen die Uferstraße.«

»Die Uferstraße! Das hört sich schön an«, sagte Anne verträumt. »Ist sie so schön wie ihr Name? Als Sie >Uferstraße< sagten, kam mir sofort ein Bild in den Kopf. Und White Sands ist auch ein hübscher Name, obwohl er mir längst nicht so gut gefällt wie Avonlea. A-von-lea - das klingt wie Musik. Wie weit ist es bis White Sands?«

»Fünf Meilen, und da du offensichtlich sowieso die ganze Zeit über reden willst, können wir die Zeit genauso gut für ein nützliches Gespräch verwenden. Erzähl mir was von dir.«

»Von mir gibt’s nicht viel zu erzählen, Miss Cuthbert. Wenn ich Ihnen erzählen dürfte, was ich mir alles über mich vorstelle, wäre das viel interessanter.«

»Nein, nein! Davon will ich nichts hören. Bleib bei der Wahrheit und fang ganz von vorne an. Wo wurdest du geboren? Und wie alt bist du?«

Anne, die sich nur ungern mit nackten Tatsachen befasste, hob resigniert die Schultern. »Im letzten März bin ich elf geworden«, berichtete sie. »Geboren wurde ich in Bolingbroke, Nova Scotia. Mein Vater hieß Walter Shirley und unterrichtete dort an der Schule. Meine Mutter hieß Bertha Shirley. Walter und Bertha - sind das nicht wunderschöne Namen? Es wäre doch schrecklich, wenn man einen Vater namens >Hesekiel> hätte!«

»Ich glaube nicht, dass es eine Rolle spielt, wie ein Mensch heißt, wenn er sich nur anständig zu benehmen weiß«, wandte Marilla ein. »Also, ich weiß nicht. Ich habe zwar mal in einem berühmten Buch gelesen: >Was ist schon ein Name? Wie die Rose auch hieße, sie würde lieblich duften<, aber das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Eine Rose würde doch nie so süß duften, wenn sie >Distel< hieße oder gar >Kohlkopf<. Obwohl ich glaube, dass mein Vater sicherlich auch dann ein anständiger Mensch gewesen wäre, wenn er >Hesekiel< geheißen hätte. Na ja, jedenfalls war meine Mutter auch Lehrerin. Als sie Vater heiratete, hat sie ihren Beruf aufgegeben. Mrs Thomas sagte immer, die beiden seien die reinsten Kinder gewesen und arm wie die Kirchenmäuse. Sie zogen in ein winziges gelbes Haus in Bolingbroke. Ich habe das Haus nie gesehen, aber ich kann es mir ganz genau vorstellen. Es war bestimmt ein sehr gemütliches Haus mit Geißblatt am Wohnzimmerfenster, Flieder im Hof, kleinen Maiglöckchen am Tor und Gardinen aus Musselin an allen Fenstern. In diesem Haus wurde ich geboren. Mrs Thomas sagte, ich sei das hässlichste Baby gewesen, das sie je gesehen habe, aber Mutter habe mich für eine vollkommene kleine Schönheit gehalten. Eine Mutter kann das bestimmt besser beurteilen als eine alte Putzfrau, meinen Sie nicht?Jedenfalls bin ich froh, dass meine Mutter mit mir zufrieden war; es wäre ja traurig, wenn ich sie enttäuscht hätte. Nach meiner Geburt lebte sie nicht mehr lange. Sie starb am Gelbfieber, als ich gerade drei Monate alt war. Ich wünschte, sie hätte wenigstens noch so lange gelebt, dass ich mich daran erinnern könnte, »Mutter zu ihr gesagt zu haben. Es muss wunderbar sein, zu einem Menschen >Mutter< sagen zu können! Vater starb vier Tage nach ihr, ebenfalls am Gelbfieber. Auf einmal war ich ein Waisenkind und die Leute wussten nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Schon damals wollte mich keiner haben, das scheint mein Schicksal zu sein. Vater und Mutter hatten beide keine Verwandten mehr. Also nahm mich schließlich Mrs Thomas zu sich, obwohl sie selbst sehr arm und außerdem mit einem Säufer verheiratet war. Immer wenn sie mit mir geschimpft hat, hat sie mir vorgehalten, wie dankbar ich ihr sein müsste.

Mr und Mrs Thomas zogen bald nach Maryville. Dort lebte ich bei ihnen, bis ich acht Jahre alt war. Ich kümmerte mich um die Kinder - sie hatten vier Kinder, alle jünger als ich. Damit hatte ich von früh bis spät zu tun. Dann wurde Mr Thomas von einem Zug überfahren und seine Mutter bot Mrs Thomas an, sie und die Kinder zu sich zu nehmen. Mich wollte sie natürlich nicht haben. Mrs Thomas wusste nicht, was sie mit mir machen sollte, da kam Mrs Hammond und holte mich, damit ich auf ihre Kinder aufpassen könnte. Also zog ich flussaufwärts zu den Hammonds, die auf einer kleinen Waldlichtung zwischen lauter Baumstümpfen wohnten. Es war sehr einsam dort, ohne meine Phantasie hätte ich es da überhaupt nicht ausgehalten! Mr Hammond arbeitete in einem Sägewerk und Mrs Hammond hatte acht Kinder. Sie hat dreimal hintereinander Zwillinge bekommen! Ich mag Babys sehr, aber es war furchtbar anstrengend, sie den ganzen Tag herumzutragen.

Als ich zwei Jahre bei den Hammonds gewesen war, starb Mr Hammond. Daraufhin löste Mrs Hammond ihren Haushalt auf, verteilte ihre Kinder unter ihren Verwandten und ging in die Staaten. Mich brachte sie ins Waisenhaus nach Hopetown. Dort wollten sie mich zuerst auch nicht aufnehmen. Sie meinten, sie hätten keinen Platz mehr frei. Schließlich durfte ich aber doch bleiben und nach vier Monaten kam Mrs Spencer und nahm mich mit zu Ihnen.«

Anne schloss ihre Erzählung mit einem Seufzer der Erleichterung. Sie sprach nicht gern über ihre Erfahrungen in einer Welt, in der niemand sie haben wollte.

»Bist du jemals zur Schule gegangen?«, wollte Marilla wissen, als sie gerade in die Uferstraße einbogen.

»Nicht regelmäßig. Im letzten Jahr bei Mrs Thomas - ja. Aber als ich zu den Hammonds zog, war die nächste Schule so weit entfernt, dass ich im Winter nicht hingehen konnte. Im Sommer waren Ferien, also konnte ich nur im Frühling und im Herbst zur Schule gehen. Aber im Waisenhaus habe ich den Unterricht besucht. Ich kann ziemlich gut lesen und kenne schon einige Gedichte auswendig - schöne romantische Gedichte vor allem, die mir die großen Mädchen beigebracht haben.«

»Waren diese Frauen - Mrs Thomas und Mrs Hammond - gut zu dir?«, fragte Marilla und beobachtete Anne aus dem Augenwinkel. Anne zögerte mit der Antwort. Ihr Gesicht wurde tiefrot, verlegen senkte sie den Blick. »Ich glaube, sie meinten es gut mit mir«, sagte sie schließlich. »Und wenn die Leute es gut mit einem meinen, dann macht es einem nicht so viel aus, wenn sie nicht immer gut sind, nicht wahr? Sie hatten genug eigene Sorgen. Mit einem Säufer verheiratet zu sein oder dreimal hintereinander Zwillinge zu kriegen - das ist nicht so einfach. Aber ich glaube fest, dass sie es gut mit mir meinten.«

Marilla fragte nicht weiter. Geistesabwesend lenkte sie die Stute an der Küste entlang und versank in tiefes Grübeln. Ihr wurde ganz weich ums Herz, als sie sich vorstellte, wie ausgehungert nach Liebe dieses kleine Wesen sein musste, dessen Dasein bisher nur aus harter Arbeit, Armut und Entbehrung bestanden hatte. Marilla war klug genug, um zwischen den Zeilen von Annes Bericht lesen zu können. Kein Wunder, dass die Aussicht auf ein wirkliches Zuhause so große Hoffnungen in dem Kind geweckt hatte. Eigentlich war es schade, sie wieder zurückschicken zu müssen. Und wenn sie Matthews unerklärlicher Laune nachgeben und die Kleine doch behalten würde? Offensichtlich hatte er sein Herz daran gehängt und Anne schien ein nettes, lernfähiges Kind zu sein.