Выбрать главу

»Ich kann nicht«, sagte er, »ich muß zur Schule, wir kriegen in der ersten Stunde die Deutschthemen fürs Abitur.«

»Ich bring dich mit Mutters Auto hin«, sagte ich.

»Ich mag nicht mit diesem dummen Auto fahren«, sagte er, »du weißt, daß ich es hasse.« Mutter hatte damals von einer Freundin »wahnsinnig preiswert« einen Sportwagen übernommen, und Leo war sehr empfindlich, wenn ihm irgend etwas als Angeberei ausgelegt werden konnte. Es gab nur eine Möglichkeit, ihn in wilden Zorn zu versetzen: wenn jemand ihn hänselte oder hätschelte unserer reichen Eltern wegen, dann wurde er rot und schlug mit den Fäusten um sich.

»Mach eine Ausnahme«, sagte ich, »setz dich ans Klavier und spiel. Willst du gar nicht wissen, wo ich war?« Er wurde rot, blickte auf den Boden und sagte: »Nein, ich will es nicht wissen.«

»Ich war bei einem Mädchen«, sagte ich, »bei einer Frau — meiner Frau.«

»So?« sagte er, ohne aufzublicken. »Wann hat die Trauung denn stattgefunden?« Er wußte immer noch nicht, wohin mit seinen verlegenen Händen, wollte plötzlich mit gesenktem Kopf an mir vorbeigehen. Ich hielt ihn am Ärmel fest.

»Es ist Marie Derkum«, sagte ich leise. Er entzog mir seinen Ellenbogen, trat einen Schritt zurück und sagte: »Mein Gott, nein.« Er sah mich böse an und knurrte irgend etwas vor sich hin.

»Was«, fragte ich, »was hast du gesagt?«

»Daß ich jetzt doch mit dem Auto fahren muß — bringst du mich?«

Ich sagte ja, nahm ihn bei der Schulter und ging neben ihm her durchs Wohnzimmer. Ich wollte es ihm ersparen, mich anzusehen. »Geh und hol die Schlüssel«, sagte ich, »dir gibt Mutter sie — und vergiß die Papiere nicht — und, Leo, ich brauche Geld — hast du noch Geld?«

»Auf der Kasse«, sagte er, »kannst du's dir selber holen?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich, »schick es mir lieber.«

»Schicken?« fragte er. »Willst du weggehen?«

»Ja«, sagte ich. Er nickte und ging die Treppe hinauf.

Erst in dem Augenblick, als er mich fragte, hatte ich gewußt, daß ich weggehen wollte. Ich ging in die Küche, wo Anna mich knurrend empfing.

»Ich dachte, du wolltest kein Frühstück mehr«, sagte sie böse.

»Frühstück nicht«, sagte ich, »aber Kaffee«. Ich setzte mich an den gescheuerten Tisch und sah Anna zu, wie sie am Herd den Filter von der Kaffeekanne nahm und ihn zum Austropfen auf eine Tasse stellte. Wir frühstückten immer morgens mit den Mädchen in der Küche, weil es uns zu langweilig war, im Eßzimmer feierlich serviert zu bekommen. Um diese Zeit war nur Anna in der Küche. Norette, das Zweitmädchen, war bei Mutter im Schlafzimmer, servierte ihr das Frühstück und besprach mit ihr Garderobe und Kosmetik. Wahrscheinlich mahlte Mutter jetzt irgendwelche Weizenkeime zwischen ihren herrlichen Zähnen, während irgendein Zeug, das aus Plazenten hergestellt ist, auf ihrem Gesicht liegt und Norette ihr aus der Zeitung vorliest. Vielleicht waren sie auch jetzt erst beim Morgengebet, das sich aus Goethe und Luther zusammensetzt und meistens einen Zusatz moralischer Aufrüstung erhält, oder Norette las meiner Mutter aus den gesammelten Prospekten für Abführmittel vor. Sie hat ganze Schnellhefter voll Medikamentenprospekte, getrennt nach »Verdauung«, »Herz«, »Nerven«, und wenn sie irgendwo eines Arztes habhaft werden kann, informiert sie sich nach »Neuerscheinungen«, spart dabei das Honorar für eine Konsultation. Wenn einer der Ärzte ihr dann Probepackungen schickt, ist sie selig. Ich sah Annas Rücken an, daß sie den Augenblick scheute, wo sie sich rumdrehen, mir ins Gesicht blicken und mit mir reden mußte. Wir beide haben uns gern, obwohl sie die peinliche Tendenz, mich zu erziehen, nie unterdrücken kann. Sie war schon fünfzehn Jahre bei uns, Mutter hat sie von einem Vetter, der evangelischer Pfarrer war, übernommen. Anna ist aus Potsdam, und schon die Tatsache, daß wir, obschon evangelisch, rheinischen Dialekt sprechen, kommt ihr irgendwie ungeheuerlich, fast widernatürlich vor. Ich glaube, ein Protestant, der bayrisch spräche, würde ihr wie der Leibhaftige vorkommen. Ans Rheinland hat sie sich schon ein bißchen gewöhnt. Sie ist groß, schlank und stolz drauf, daß sie »sich wie eine Dame bewegt«. Ihr Vater war Zahlmeister bei einem Ding, von dem ich nur weiß, daß es I.R.9 hieß. Es nutzt gar nichts, Anna zu sagen, daß wir ja nicht bei diesem I.R.9 sind; was Jugenderziehung anbelangt, läßt sie sich nicht von dem Spruch abbringen: »Das wäre beim I.R.9 nicht möglich gewesen.« Ich bin nie ganz hinter dieses I.R.9 gekommen, weiß aber inzwischen, daß ich in dieser geheimnisvollen Erziehungsinstitution wahrscheinlich nicht einmal als Kloreiniger eine Chance gehabt hätte. Vor allem meine Waschpraktiken riefen bei Anna immer I. R. 9-Beschwörungen hervor, und »diese fürchterliche Angewohnheit, so lange wie möglich im Bett zu bleiben«, ruft bei ihr einen Ekel hervor, als wäre ich mit Lepra behaftet. Als sie sich endlich umdrehte, mit der Kaffeekanne an den Tisch kam, hielt sie die Augen gesenkt wie eine Nonne, die einen etwas anrüchigen Bischof bedient. Sie tat mir leid, wie die Mädchen aus Maries Gruppe. Anna hatte mit ihrem Nonneninstinkt sicher gemerkt, wo ich herkam, während meine Mutter wahrscheinlich, wenn ich drei Jahre lang mit einer Frau heimlich verheiratet wäre, nicht das geringste merken würde. Ich nahm Anna die Kanne aus der Hand, goß mir Kaffee ein, hielt Annas Arm fest und zwang sie, mich anzusehen: sie tat es mit ihren blassen, blauen Augen, flatternden Lidern, und ich sah, daß sie tatsächlich weinte. »Verdammt, Anna«, sagte ich, »sieh mich an. Ich nehme an, daß man in deinem I.R.9 sich auch mannhaft in die Augen geschaut hat.«

»Ich bin kein Mann«, wimmerte sie, ich ließ sie los; sie stellte sich mit dem Gesicht zum Herd, murmelte etwas von Sünde und Schande, Sodom und Gomorrha, und ich sagte: »Anna, mein Gott, denk doch dran, was die in Sodom und Gomorrha wirklich gemacht haben.« Sie schüttelte meine Hand von ihrer Schulter, ich ging aus der Küche, ohne ihr zu sagen, daß ich von zu Haus wegwollte. Sie war die einzige, mit der ich manchmal über Henriette sprach.

Leo stand schon draußen vor der Garage und blickte ängstlich auf seine Armbanduhr. »Hat Mutter gemerkt, daß ich weg war?« fragte ich. Er sagte »Nein«, gab mir die Schlüssel und hielt das Tor auf. Ich stieg in Mutters Auto, fuhr raus und ließ Leo einsteigen. Er blickte angestrengt auf seine Fingernägel. »Ich habe das Sparbuch«, sagte er, »ich hole das Geld in der Pause. Wohin soll ichs schicken?« — »Schicks an den alten Derkum«, sagte ich. »Bitte«, sagte er, »fahr los, es ist Zeit.« Ich fuhr schnell, über unseren Gartenweg, durch die Ausfahrt und mußte draußen an der Haltestelle warten, an der Henriette eingestiegen war, als sie zur Flak fuhr. Es stiegen ein paar Mädchen in Henriettes Alter in die Straßenbahn. Als wir die Bahn überholten, sah ich noch mehr Mädchen in Henriettes Alter, lachend, wie sie gelacht hatte, mit blauen Mützen auf dem Kopf und Mänteln mit Pelzkragen. Wenn ein Krieg käme, würden ihre Eltern sie genauso wegschicken, wie meine Eltern Henriette weggeschickt hatten, sie würden ihnen Taschengeld zustecken, ein paar belegte Brote, ihnen auf die Schulter klopfen und sagen »Mach's gut«. Ich hätte den Mädchen gern zugewinkt, ließ es aber. Es wird alles mißverstanden. Wenn man in einem so dummen Auto fährt, kann man nicht einmal einem Mädchen winken. Ich hatte einmal einem Jungen im Hofgarten eine halbe Tafel Schokolade geschenkt und ihm die blonden Haare aus der schmutzigen Stirn gestrichen; er weinte und hatte sich die Tränen durchs Gesicht auf die Stirn geschmiert, ich wollte ihn nur trösten. Es gab einen fürchterlichen Auftritt mit zwei Frauen, die fast die Polizei gerufen hätten, und ich fühlte mich nach der Keiferei wirklich wie ein Unhold, weil eine der Frauen immer zu mir sagte: »Sie schmutziger Kerl, Sie schmutziger Kerl.« Es war scheußlich, der Auftritt kam mir so pervers vor, wie ein wirklicher Unhold mir vorkommt.

полную версию книги