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Mein Urteil in Schulsachen besagt nichts. Es war einfach ein Irrtum, mich länger als gesetzlich vorgeschrieben auf die Schule zu schicken; selbst die gesetzlich vorgeschriebene Zeit war schon zuviel. Ich habe der Schule wegen nie die Lehrer angeklagt, sondern nur meine Eltern. Diese »Er muß aber doch das Abitur machen«-Vorstellung ist eigentlich eine Sache, deren sich das Zentralkomitee der Gesellschaften zur Versöhnung rassischer Gegensätze einmal annehmen sollte. Es ist tatsächlich eine Rassenfrage: Abiturienten, Nichtabiturienten, Lehrer, Studienräte, Akademiker, Nichtakademiker, lauter Rassen. — Als Züpfners Vater uns das Gedicht vorgelesen hatte, wartete er ein paar Minuten und fragte dann lächelnd: »Na, möchte einer was dazu sagen?« und ich sprang sofort auf und sagte: »Ich finde das Gedicht wunderbar.« Daraufhin brach die ganze Klasse in Lachen aus, Züpfners Vater nicht. Er lächelte, aber nicht auf eine hochnäsige Weise. Ich fand ihn sehr nett, nur ein bißchen zu trocken. Seinen Sohn kannte ich nicht sehr gut, aber besser als den Vater. Ich war einmal am Sportplatz vorbeigekommen, als er dort mit seiner Jungengruppe Fußball spielte, und als ich mich dorthin stellte und zusah, rief er mir zu: »Willst du nicht mitmachen?« und ich sagte sofort ja und ging als linker Läufer in die Mannschaft, die gegen Züpfner spielte. Nach dem Spiel sagte er zu mir: »Willst du nicht mitkommen?« Ich fragte: »Wohin?« und er sagte: »Zu unserem Heimabend«, und als ich sagte: »Ich bin doch gar nicht katholisch«, lachte er, und die anderen Jungen lachten mit; Züpfner sagte: »Wir singen — und du singst doch sicher gern.« — »Ja«, sagte ich, »aber von Heimabenden habe ich die Nase voll, ich bin zwei Jahre in einem Internat gewesen. « Obwohl er lachte, war er doch gekränkt. Er sagte: »Aber wenn du Lust hast, komm doch wieder zum Fußballspielen.« Ich spielte noch ein paar Mal Fußball mit seiner Gruppe, ging mit ihnen Eis essen, und er lud mich nie mehr ein, mit zum Heimabend zu kommen. Ich wußte auch, daß Marie im selben Heim mit ihrer Gruppe Abende hielt, ich kannte sie gut, sehr gut, weil ich viel mit ihrem Vater zusammen war, und manchmal ging ich abends zum Sportplatz, wenn sie mit ihren Mädchen da Völkerball spielte, und sah ihnen zu. Genauer gesagt: ihr, und sie winkte mir manchmal mitten aus dem Spiel heraus zu und lächelte, und ich winkte zurück und lächelte auch; wir kannten uns sehr gut. Ich ging damals oft zu ihrem Vater, und sie blieb manchmal bei uns sitzen, wenn ihr Vater mir Hegel und Marx zu erklären versuchte, aber zu Hause lächelte sie mir nie zu. Als ich sie an diesem Nachmittag mit Züpfner Hand in Hand aus dem Jugendheim kommen sah, gab es mir einen Stich. Ich war in einer dummen Lage. Ich war von der Schule weggegangen, mit einundzwanzig von der Untersekunda. Die Patres waren sehr nett gewesen, sie hatten mir sogar einen Abschiedsabend gegeben, mit Bier und Schnittchen, Zigaretten und für die Nichtraucher Schokolade, und ich hatte meinen Mitschülern allerlei Nummern vorgeführt: katholische Predigt und evangelische Predigt, Arbeiter mit Lohntüte, auch allerlei Faxen und Chaplin-Imitationen. Ich hatte sogar eine Abschiedsrede gehalten »Über die irrige Annahme, daß das Abitur ein Bestandteil der ewigen Seligkeit sei«. Es war ein rauschender Abschied, aber zu Hause waren sie böse und bitter. Meine Mutter war einfach gemein zu mir. Sie riet meinem Vater, mich in den »Pütt« zu stecken, und mein Vater fragte mich dauernd, was ich dann werden wolle, und ich sagte »Clown«. Er sagte: »Du meinst Schauspieler — gut — vielleicht kann ich dich auf eine Schule schicken.« — »Nein«, sagte ich, »nicht Schauspieler, sondern Clown — und Schulen nützen mir nichts.« — »Aber was stellst du dir denn vor?« fragte er. »Nichts«, sagte ich, »nichts. Ich werde schon abhauen.« Es waren zwei fürchterliche Monate, denn ich fand nicht den Mut, wirklich abzuhauen, und bei jedem Bissen, den ich aß, blickte mich meine Mutter an, als wäre ich ein Verbrecher. Dabei hat sie jahrelang allerlei hergelaufene Schmarotzer am Fressen gehalten, aber das waren »Künstler und Dichter«; Schnitzler, dieser Kitschbruder, und Gruber, der gar nicht so übel war. Er war ein fetter, schweigsamer und schmutziger Lyriker, der ein halbes Jahr bei uns wohnte und nicht eine einzige Zeile schrieb. Wenn er morgens zum Frühstück herunterkam, blickte meine Mutter ihn jedesmal an, als erwarte sie, die Spuren seines nächtlichen Ringens mit dem Dämon zu entdecken. Es war schon fast unzüchtig, wie sie ihn ansah. Er verschwand eines Tages spurlos, und wir Kinder waren überrascht und erschrocken, als wir auf seinem Zimmer einen ganzen Haufen zerlesener Kriminalromane entdeckten, auf seinem Schreibtisch ein paar Zettel, auf denen nur ein Wort stand: »Nichts«, auf einem Zettel stand es zweimaclass="underline" »Nichts, nichts.« Für solche Leute ging meine Mutter sogar in den Keller und holte ein Extrastück Schinken. Ich glaube, wenn ich angefangen hätte, mir riesige Staffeleien anzuschaffen, und auf riesige Leinwände blödes Zeug gepinselt hätte, wäre sie sogar imstande gewesen, sich mit meiner Existenz zu versöhnen. Dann hätte sie sagen können: »Unser Hans ist ein Künstler, er wird seinen Weg schon finden. Er ringt noch.« Aber so war ich nichts als ein etwas ältlicher Untersekundaner, von dem sie nur wußte, daß er »ganz gut irgendwelche Faxen« machen kann. Ich weigerte mich natürlich, für das bißchen Fressen auch noch »Proben meines Könnens« zu geben. So verbrachte ich halbe Tage bei Maries Vater, dem alten Derkum, dem ich ein bißchen im Laden half und der mir Zigaretten schenkte, obwohl es ihm nicht sehr gut ging. Es waren nur zwei Monate, die ich auf diese Weise zu Hause verbrachte, aber sie kamen mir wie eine Ewigkeit vor, viel länger als der Krieg. Marie sah ich selten, sie war mitten in der Vorbereitung fürs Abitur und lernte mit ihren Schulkameradinnen. Manchmal ertappte mich der alte Derkum dabei, daß ich ihm gar nicht zuhörte, sondern nur auf die Küchentür starrte, dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Sie kommt heute erst spät«, und ich wurde rot.

Es war ein Freitag und ich wußte, daß der alte Derkum freitags abends immer ins Kino ging, aber ich wußte nicht, ob Marie zu Hause sein oder bei einer Freundin fürs Abitur pauken würde. Ich dachte an gar nichts und doch an fast alles, sogar daran, ob sie »nachher« noch in der Lage sein würde, ihre Prüfung zu machen, und schon wußte ich, was sich nachher bestätigte, daß nicht nur halb Bonn sich über die Verführung empören würde, sondern hinzufügen würde: »und so kurz vor dem Abitur«. Ich dachte sogar an die Mädchen aus ihrer Gruppe, für die es eine Enttäuschung sein würde. Ich hatte eine fürchterliche Angst vor dem, was im Internat ein Junge einmal als »die körperlichen Einzelheiten« bezeichnet hatte, und die Frage der Potenz beunruhigte mich. Das Überraschende für mich war, daß ich vom »fleischlichen Verlangen« nicht das geringste spürte. Ich dachte auch daran, daß es unfair von mir war, mit dem Schlüssel, den ihr Vater mir gegeben hatte, ins Haus und auf Maries Zimmer zu gehen, aber ich hatte gar keine andere Wahl, als den Schlüssel zu benutzen. Das einzige Fenster in Maries Zimmer lag zur Straße hin, und die war bis zwei Uhr morgens so belebt, daß ich auf dem Polizeibüro gelandet wäre — und ich mußte diese Sache heute mit Marie tun. Ich ging sogar in eine Drogerie und kaufte mir von dem Geld, das ich von meinem Bruder Leo geliehen hatte, irgendein Zeug, von dem sie in der Schule erzählt hatten, daß es die männliche Kraft steigere. Ich wurde knallrot, als ich in die Drogerie ging, zum Glück bediente mich ein Mann, aber ich sprach so leise, daß er mich anbrüllte und mich aufforderte, »laut und deutlich« zu sagen, was ich wolle, und ich nannte den Namen des Präparats, bekam es und zahlte bei der Frau des Drogisten, die mich kopfschüttelnd ansah. Natürlich kannte sie mich, und als sie am nächsten Morgen erfuhr, was geschehen war, machte sie sich wahrscheinlich Gedanken, die gar nicht zutrafen, denn zwei Straßen weiter öffnete ich die Schachtel und ließ die Pillen in die Gosse rollen.