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«Irgendwo muß diese Wolkendecke doch aufhören«, dachte ich, während ich mich bemühte, die gelben Markierungen auf den Steinen und den Bäumen am Weg zu erkennen. Seit einer Stunde sah ich kaum die Hand vor Augen, und ich sang immer weiter, um die Angst zu vertreiben, und wartete darauf, daß etwas Außergewöhnliches geschah. Mitten im Nebel, ganz allein in dieser unwirklichen Umgebung, sah ich mich auf dem Jakobsweg noch einmal wie in einem Film in dem Augenblick, wo der Held etwas tut, was niemand tun würde, während das Publikum sich denkt, daß so etwas nur im Kino passiert. Doch ich erlebte diese Situation im wirklichen Leben. Der Wald wurde immer stiller, und der Nebel begann sich ein wenig zu lichten.

Vielleicht war er ja bald zu Ende, doch er tauchte alles um mich herum in ein geheimnisvolles, fast unheimliches Licht.

Die Stille war jetzt fast vollkommen, und ich bemerkte es erst, als ich eine Frauenstimme links von mir zu hören glaubte. Ich blieb sofort stehen. Hoffte, ich würde sie wieder hören, doch es war wieder still. Ich hörte nichts, nicht einmal die üblichen Geräusche des Waldes, die Grillen, Insekten, Tiere, die auf trockene Blätter traten. Ich schaute auf die Uhr. Viertel nach fünf. Es mußten noch etwa vier Kilometer bis nach Torrestrela sein, und wenn ich mich beeilte, kam ich ohne weiteres noch vor Einbruch der Nacht dort an.

Als ich aufschaute, hörte ich wieder die Frauenstimme. Damit begann eine der wichtigsten Erfahrungen meines Lebens. Die Stimme kam nicht von irgendwo aus dem Wald, sondern aus meinem Innern. Ich hörte sie ganz klar und deutlich. Es war weder meine Stimme noch die von Astrain. Sie sagte mir nur, ich solle weitergehen, und ich gehorchte, ohne zu zögern. Der Nebel wurde immer dünner, und vor mir auf dem steilen, rutschigen Gelände ragten ein paar vereinzelte Bäume auf.

Dann, unvermittelt, wie durch Zauberhand, löste sich der Nebel ganz auf. Und vor mir erhob sich auf dem Gipfel des Berges das Kreuz.

Ich blickte um mich, sah ein Meer von Wolken, dort, wo ich herausgetreten war, und hoch über mir ein weiteres Wolkenmeer. Zwischen diesen beiden Ozeanen lagen die Gipfel der höchsten Berge und der Gipfel des Cebreiro mit dem Kreuz. Mich überkam der Wunsch zu beten. Obwohl mir klar war, daß dies mich vom Weg nach Torrestrela abbringen würde, beschloß ich, bis zum Gipfel hinaufzusteigen und meine Gebete am Fuße des Kreuzes zu sprechen. Während des vierzigminütigen Aufstiegs war alles um mich herum und in mir still. Die Sprache, die ich erfunden hatte, war versiegt, ich brauchte sie nicht mehr, um mit Gott und den Menschen zu kommunizieren. Der Jakobsweg» ging mich«, und er würde mich zu dem Ort führen, an dem sich mein Schwert befand.

Petrus hatte wieder einmal recht behalten.

Als ich oben auf dem Gipfel ankam, saß ein Mann neben dem Kreuz und schrieb. Im ersten Moment hielt ich ihn für einen Boten, eine übernatürliche Vision. Doch dann sah ich die Kammuschel auf seinem Hemd. Es war nur ein Pilger, der mich lange ansah und dann ging, weil ihn meine Gegenwart störte.

Vielleicht wartete er auf dasselbe wie ich — auf einen Engel — , und beide stellten wir fest, daß der andere nur ein Mensch war.

Auf dem Weg der gewöhnlichen Menschen.

Obwohl ich beten wollte, brachte ich kein Wort über die Lippen.

Lange stand ich vor dem Kreuz und blickte auf die Berge und die Wolken, die Himmel und Erde bedeckten und nur die höchsten Gipfel freigaben. Einige hundert Meter unter mir lag ein Weiler mit fünfzehn Häusern und einer kleinen erleuchteten Kirche. Jetzt wußte ich wenigstens, wo ich notfalls übernachten konnte, wenn der Jakobsweg es so vorsah. Obwohl Petrus gegangen war, war ich doch nicht führerlos: Der Weg» ging mich«.

Ein verirrtes Lamm kam den Berg herauf und stellte sich zwischen mich und das Kreuz. Es sah mich etwas erschreckt an. Lange blickte ich zum dunklen Himmel empor, zum Kreuz und dem weißen Lamm zu seinen Füßen. Auf einmal spürte ich, wie müde ich von den ganzen Prüfungen, den Kämpfen, Lektionen und den Märschen war. Ein fürchterlicher Schmerz durchfuhr meinen Magen, kroch in die Kehle hinauf und machte sich in einem trockenen, tränenlosen Schluchzen Luft — vor diesem Kreuz, das ich nicht aufrichten mußte, weil es einsam und hoheitsvoll vor mir stand und dem Wetter trotzte. Es versinnbildlichte das Schicksal, das der Mensch nicht seinem Gott, sondern sich selbst auferlegt.

«Herr«, konnte ich endlich beten.»Ich bin nicht an dieses Kreuz geschlagen, und auch Dich sehe ich dort nicht. Das Kreuz ist leer und soll es für immer bleiben, weil die Zeit des Todes vorüber ist und jetzt in mir ein Gott aufersteht. Dieses Kreuz war das Symbol für die unendliche Macht, die wir alle besitzen, die wir aber ans Kreuz geschlagen und getötet haben. Jetzt wird diese Macht wiedergeboren, die Welt ist gerettet, und ich bin fähig, ihre Wunder zu vollbringen. Denn ich bin den Weg der gewöhnlichen Leute gegangen, in ihnen habe ich Dein Geheimnis entdeckt.

Auch Du bist den Weg der gewöhnlichen Menschen gegangen.

Du hast uns gezeigt, wozu wir fähig sein konnten, wenn wir nur wollten, aber wir wollten nicht. Du hast uns gezeigt, daß die Macht und die Glorie für uns alle erreichbar ist, doch diese unvermittelte Vision unserer eigenen Möglichkeiten war zuviel für uns. Wir haben Dich nicht gekreuzigt, weil wir dem Sohn Gottes undankbar waren, sondern weil wir uns davor fürchteten, unsere eigenen Fähigkeiten anzuwenden. Wir haben Dich gekreuzigt, weil wir Angst hatten, zu Göttern zu werden. Mit der Zeit und mit der Überlieferung wurdest Du wieder zu einer fernen Gottheit, und wir kehrten zu unserem Schicksal als Menschen zurück. Es ist keine Sünde, glücklich zu sein. Ein halbes Dutzend Exerzitien und ein offenes Ohr reichen, damit es einem Menschen gelingt, seine unmöglichsten Träume zu verwirklichen. Weil ich stolz auf meine Kenntnisse war, hast Du mich den Weg gehen lassen, den alle gehen können, und mich entdecken lassen, was alle wissen könnten, wenn sie dem Leben mehr Beachtung schenken würden. Du hast mich sehen lassen, daß die Suche nach Glück eine ganz persönliche Suche ist und es kein Rezept gibt, das wir an andere weitergeben könnten. Bevor ich mein Schwert finde, mußte ich sein Geheimnis entdecken. Und es war so einfach, es geht nur darum zu wissen, was man mit ihm tun will. Mit ihm und dem Glück, das es für mich bedeuten wird.

Ich bin viele Kilometer gewandert, um Dinge herauszufinden, die ich bereits wußte, die wir alle wissen, aber die so schwer anzunehmen sind. Gibt es etwas Schwierigeres für den Menschen, Herr, als herauszufinden, daß er die Macht erreichen kann? Diesen Schmerz, den ich jetzt in meiner Brust fühle und der mich schluchzen läßt und das Lamm erschreckt, gibt es, seit es Menschen gibt. Nur wenige nehmen die Last des eigenen Sieges auf sich: Die meisten geben ihre Träume auf, wenn sie sich als erfüllbar erweisen. Sie weigern sich, den guten Kampf zu kämpfen, weil sie nicht wissen, was sie mit dem eigenen Glück anfangen sollen. So wie ich mein Schwert finden wollte, ohne zu wissen, was ich damit anfangen wollte.«

Ein Gott erwachte in mir, und der Schmerz wurde immer stärker. Ich spürte, daß mein Meister in der Nähe war, und endlich konnte ich auch weinen. Ich weinte aus Dankbarkeit dafür, daß mein Meister mich auf den Jakobsweg geschickt hatte, um mein Schwert zu suchen. Ich weinte aus Dankbarkeit gegenüber Petrus, weil er mich gelehrt hatte, daß sich meine Träume erfüllen ließen, wenn ich erst einmal herausgefunden hatte, was ich damit anfangen wollte. Ich sah das leere Kreuz und das Lamm zu seinen Füßen.

Das Lamm erhob sich, und ich folgte ihm. Es wußte, wohin es mich bringen sollte, denn die Welt war trotz der Wolken für mich durchsichtig geworden. Auch wenn ich die Milchstraße am Himmel nicht sehen konnte, so war ich doch sicher, daß es sie gab und sie allen den Jakobsweg zeigte. Ich folgte dem Lamm, das auf den kleinen Ort zuging, der Cebreiro heißt wie der Berg.