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Heinz G. Konsalik

Aus dem Nichts ein neues Leben

Kapitel 1

Sie hörten es zum erstenmal, als sie aus der Kirche kamen. Der Pfarrer hatte den Segen gesprochen, die kleine Glocke in dem spitzen Turm läutete, sie standen in Gruppen auf dem Kirchplatz, die letzten Worte noch auf der Seele:»Gott schütze unser Vaterland und gebe uns bald Frieden — «, - da wehte es zu ihnen her, jenes ferne, fremdartige, merkwürdige, fast nur gehauchte Grollen, das der Wind mitgenommen hatte und nun über die Äcker und Wiesen, Birkenwälder und Seen trieb.

Sie hoben die Köpfe, blickten in den Herbsthimmel, ein unendlicher blauer Himmel mit dicken weißen Wolkenbergen, unterbrachen ihr Gespräch und lauschten.

«Artilleriefeuer«, sagte Paskuleit und steckte die Hände in die Taschen seines Sonntagsanzuges.»Ganz klar Artilleriefeuer.«

Die anderen schwiegen. Die Frauen nestelten an ihren Kopftüchern und sahen zur Kirche. Pfarrer Heydicke kam heraus, auch er hob den Kopf und blieb in der Tür stehen. Groß, breit, in seinem schwarzen Talar eine wuchtige Gestalt, urweltlich fast, wie aus dem ostpreußischen Boden in Jahrhunderten gewachsen.

«Irgend etwas stimmt da nicht!«sagte Paskuleit so laut, daß alle Köpfe zu ihm herumfuhren.»Im Wehrmachtsbericht steht nur, daß die Russen kleine örtliche Gewinne hatten. Das aber kommt von der Weichsel, verlaßt euch drauf!«

Es war ein Sonntag im Oktober. Das Dorf Adamsverdruß zwischen Ortelsburg und Johannisburg war fast vollständig vor der Kirche versammelt. Nur wenige fehlten… der Ortsgruppenleiter Felix Baum, der Ortsbauernführer Johannes Lusken und die gelähmte Rentnerin Juliane Brakau. Juliane brauchte viel Schlaf… sie kam erst gegen Mittag in die Kirche. Johannes Lusken, der Nachbar, rollte sie dann in ihrem Rollstuhl zum >Privatgottesdienst< und bekam so automatisch auch seinen Segen mit. Er umging dadurch die von der Partei erwartete Ignorierung der Religion und redete sich damit heraus, daß er nur Juliane zuliebe in der Kirche blieb, ein Akt absoluter Menschenfreundlichkeit. Jeder in Adamsverdruß wußte, daß Lusken sogar hinter der Lehne des Rollstuhles die Hände faltete, wenn Pfarrer Heydicke das Vaterunser sprach, und so war es eigentlich nur der Ortsgruppenleiter Baum, der nicht in der Kirche saß, sondern vor dem Volksempfänger dem sonntäglichen Leitartikel des Propagandaministers Goebbels lauschte. Meistens verglich er dann heimlich die Worte aus Berlin mit dem, was Urlauber von der Front erzählten, was man in Groß Puppen, dem nächsten größeren Dorf, beim Einkauf hörte oder was der Viehhändler aus Ortelsburg an Neuigkeiten mitbrachte.

«Was ist das, Herr Pfarrer?«fragte Paskuleit über die Köpfe der Adamsverdrusser hinweg. Er stand breitbeinig auf dem Platz, mit einem runden Kopf und ausladenden Schultern, und wer ihn so sah, verstand, warum dieses Land Ostpreußen von Gott gesegnet war.

Julius Paskuleit war Schuhmachermeister. Eigentlich hatte er den elterlichen Hof in Kleinlindengrund übernehmen sollen, Kartoffeln und Pferdezucht, dazu zwanzig Stück Rindvieh und den Gemeindebullen. Aber gerade an diesem Bullen scheiterte sein vorgeschriebener Lebensweg. Er war achtzehn Jahre alt, als er den Bullen von der Weide holen sollte, und bis heute weiß noch keiner, welchen Geruch Paskuleit an sich hatte, jedenfalls senkte der Bulle den Kopf, stampfte den Boden auf und donnerte auf Paskuleit zu.

Es ist keine Feigheit, wenn man vor einem blödsinnig gewordenen Bullen davonläuft. Paskuleit drehte sich um, streckte sich wie ein Sprinter und versuchte, in langen Sprüngen den schützenden Zaun zu erreichen. Aber der Bulle war schneller, erreichte ihn, rammte ihm das Horn in den linken Oberschenkel, schleuderte Pasku-leit mit einem Schädelzucken hoch in die Luft und war dann plötzlich sehr friedlich, als der kleine, blutende Mensch ohnmächtig durch den Zaun rollte.

Von Kleinlindengrund bis zum Krankenhaus nach Ortelsburg sind es nur 27 km, aber so schnell war damals kein Auto aufzutreiben. Dr. Krokau kam mit einem Wägelchen aus Friedrichshof, aber auch das dauerte fast eine Stunde, band das Bein ab, und als Paskuleit endlich in Ortelsburg auf dem Operationstisch lag, war es zu spät, man mußte das Bein amputieren, aber mit einem so schönen langen Stumpf, daß Paskuleit mühelos eine Prothese tragen konnte.

Den Hof übernahm der zweite Sohn.»Du wirst Schuster«, sagte der alte Paskuleit, ein Patriarch mit rauhem Bart, der nach einem beendeten Satz mit der Faust auf den Tisch schlug, um zu demonstrieren, daß es keine Widerrede gab.»Wer nur ein Bein hat, lernt das gute Gehen anderer Menschen schätzen. «So wurde Julius Paskuleit Schuhmacher, ließ sich in Groß Puppen mit einer Werkstatt nieder und zog 1940 nach Adamsverdruß, weil sein Schwager Ewald Kurowski in den Krieg mußte.

Auch Ewald Kurowski war Schuhmachermeister. Als er 1942 zum letztenmal in Urlaub war, sagte er:»Julius, Erna kriegt wieder ein Kind. Paß auf meine Familie auf, und wenn mir was passiert… bleib bei ihr. Verlaß sie nicht. Bis auf Großvater und Großmutter haben wir ja nur noch dich. Und dieser Krieg wird eine große Scheiße werden, das sag ich dir. Das ganze Heil-Rufen macht uns doch nur besoffen, und was der Baum da an Reden hält, quatscht er doch nur nach. Julius, kümmere dich um meine Familie.«

Und das tat Paskuleit. Als Ewald Kurowski Ende 1943 vermißt wurde, irgendwo in den Pripjet-Sümpfen, wurde er der Chef der Kurowskis. Seine Schwester Erna und die Kinder erkannten ihn an, auch Großmutter Berta war froh, daß Paskuleit mit seiner Schuhmacherwerkstatt die Familie ernährte, lediglich Großvater Joachim, genannt >Brüll-Jochen<, sah nicht ein, warum ein junger Kerl Familienoberhaupt wurde und nicht er, der Würdigste von allen. Für ihn, den 72jährigen, war Paskuleit mit seinen 39 Jahren gerade aus dem Ei gekrochen. Er zeigte seinen Widerstand an allem, kam zu spät zum Essen, war grundsätzlich anderer Meinung als Paskuleit und brüllte bei jeder Gelegenheit:»Mein Urahne war Müller bei den Ordensrittern. Ich lasse mir nichts befehlen!«

Auch jetzt schnupperte er in die Luft, hörte wohl das ferne Grollen, aber da Paskuleit schon seine Meinung abgegeben hatte, sagte er ebenso laut:»Das ist ein Gewitter!«

«Sie stehen an der Weichsel, es stimmt«, sagte Pfarrer Heydicke. Er ging durch die Leute von Adamsverdruß hinüber zu seinem kleinen Pfarrhaus, und sie folgten ihm dichtgedrängt. Nur Opa Jochen blieb stehen, drückte das Kinn an und brüllte:»Es ist ein Gewitter!«

«Wir sollten Baum fragen, was nun kommt«, sagte Paskuleit.»Als Ortsgruppenleiter muß er wissen, wie's weitergeht! Kommt der Russe über die Weichsel? Gibt's ein zweites Tannenberg? Er soll mal in Ortelsburg bei der Kreisleitung anrufen.«

«Sie werden kommen. «Pfarrer Heydicke blieb in der Tür seines Hauses stehen. Sein Blick wanderte über die Köpfe. Ein paar Männer, meistens alte, zu alt für den Krieg, ein paar Invaliden, wie Pas-kuleit, genau vierzehn jüngere Männer, für unabkömmlich erklärt, weil sie in verschiedenen Fabriken in Ortelsburg und Bischofsburg arbeiteten, oder wie der Schuhmachergeselle Franz Busko, der wegen einer alten Lungentuberkulose nicht eingezogen wurde, irgendwelche Leiden hatten, sonst aber nur Frauen und Kinder. Eine zusammengeballte Masse stummer Fragen und hintergründiger Angst. Was wird aus uns? Müssen wir Adamsverdruß verlassen? Kommt der Russe bis zu uns? Und wohin dann? Hinauf zur Küste, zur Nehrung? Oder westwärts, nach Pommern, nach Berlin, ins Branden-burgische Land hinein? Was wird aus Ostpreußen, Herr Pfarrer? Müssen wir aus der Heimat flüchten?

«Ich weiß es nicht«, sagte Heydicke in die breitflächigen Gesichter hinein. Diese Menschen brauchten nicht laut zu fragen, er verstand sie an ihren Blicken.»Ich weiß nicht einmal, ob Gott hier helfen kann. Im Krieg beten alle zu Gott… alle, die auf Befehl töten, hüben und drüben. Die Bomben werden gesegnet, die Granaten, die Gewehre, die Kanonen, die Menschen, die Verwundeten, die Sterbenden, die Toten. Gott soll jedem helfen, denn jeder glaubt, gerecht zu sein. Was soll Gott tun? Wißt ihr darauf eine Antwort?«