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Die Kirchgänger zerstreuten sich langsam. Sie waren stolz auf ihren Pfarrer. Er war nicht einer von denen, die immer und zu jeder

Gelegenheit sich hinter Jesus versteckten und ihm die Entscheidung zuschoben. Er sagte, was er dachte, und es war oft nicht heilig, aber ehrlich. Das war mehr wert als zehn Bibelsprüche, die gerade jetzt nicht mehr halfen, wo dieses ferne Grollen in der Luft hing.

«Ich geh zu Baum«, sagte Paskuleit, als die Familie Kurowski am Vorgarten ihres Hauses angelangt war.»Von der Weichsel bis zu uns ist ein Spaziergang. Wir sollten uns auf alles vorbereiten.«

«Ich geh mit«, sagte Großvater Jochen und stemmte seinen Spazierstock in den Boden.

«Warum?«Paskuleit zeigte in den Herbsthimmel mit den träge ziehenden Wolkenbergen.»Kümmere dich um dein Gewitter, Opa.«

«So ein junger Rotzer!«brüllte Joachim Kurowski.»Ich gehe hin, wohin ich will! Ich will mit Baum über Goebbels diskutieren! Was dagegen, Maanchen?!«

«Aber du hältst den Mund, wenn ich frage.«

«Ich rede, wie's mir paßt!«brüllte Opa Jochen.»Los! Ich will noch einen Bärenfang trinken!«

Er stampfte voraus. Erna Kurowski hielt ihren Bruder am Ärmel fest. Das jüngste Kind, die 2jährige Inge, trug sie auf dem Arm.»Sind das wirklich Kanonen?«fragte sie.

«Ja.«

«Und wir müssen weg von hier?«

«Willst du von den Russen überrollt werden?«

«Und das Haus? Die Werkstatt? Die Felder? Unser Wald?«

«Danach fragt ein Krieg nicht. Wenn die Russen über die Grenze kommen, werden wir froh sein, das nackte Leben retten zu können. In einer Stunde wissen wir mehr.«

Das war ein Irrtum.

Ortsgruppenleiter Felix Baum hatte den Goebbels-Artikel aus dem >Reich<, der Wochenzeitung, die das Sprachrohr der Regierung geworden war, im Radio gehört und dachte bei Marschmusik über die hoffnungsvollen Worte nach. Er war erstaunt, als erst Jochen

Kurowski und gleich dahinter Julius Paskuleit bei ihm eintraten und >Brüll-Jochen< ohne zu fragen das Radio ausstellte.

«Du verpaßt das Beste«, sagte er dann.»Steck den Kopf 'raus, Felix… da donnert's von der Weichsel her!«

«Ein Gewitter — «sagte Paskuleit genußvoll.

«Artillerie!«brüllte Opa Jochen.

«Blödsinn!«Baum winkte ab.»Ich habe gerade Goebbels gehört.«

«Und ich kenne den Ton von 14/18 her! War Goebbels vor Verdun, ha? War Goebbels am Toten Mann? War Goebbels auf der Höhe 304? Aber ich! Und ich kenne das Grollen! Das ist ein Trommelfeuer! Ortsgruppenleiter — kommen die Russen nach Adamsverdruß?!«

«Nie! Unser Führer wird die Roten Horden bis nach Asien hineinjagen. Ostpreußen ist ein Bollwerk, das wie ein Fels.«

«Leck mich doch am Arsch!«sagte Paskuleit und setzte sich.»Der Russe steht an der Weichsel, willst du das bestreiten?«

«Der Wehrmachtsbericht. «Felix Baum stellte den Volksempfänger wieder an. Die Marschmusik riß ihn hoch. Vom Militärdienst war er befreit wegen einer Leberverhärtung und geradezu bilderbuchhaften Hämorrhoiden, dafür hatte man ihn zum Ortsgruppenleiter von Adamsverdruß gemacht.»Jedes Dorf«- hatte der Kreisleiter in Ortelsburg gesagt —»muß eine verschworene Gemeinschaft im Glauben an den Führer sein! Nur dieser Glauben bringt uns den Endsieg und das Großdeutsche Reich! Sieg Heil!«Felix Baum hatte den Arm hochgerissen, sich in Ortelsburg seine Uniform als Politischer Leiter gekauft und war nach Adamsverdruß zurückgekommen wie ein Fürst, der in sein Land einzieht. Seitdem hatte er nur Unannehmlichkeiten gehabt, nur Krach mit seinen alten Freunden, nur Streit und Beschimpfungen, und als er Pfarrer Heydicke einmal ermahnte, seine Predigten seien zersetzend, wurde er in der Nacht von Sonntag auf Montag jämmerlich verprügelt, ohne daß man jemals herausbekam, wer die Attentäter waren. Baum ahnte es, sprach von da an vor allem mit Paskuleit sehr vorsichtig und umging alle Diskussionen.

«Und wenn sie an der Weichsel stehen. unsere tapferen Divisionen werden sie vor sich hertreiben.«

«Du weißt also gar nichts?«sagte Opa Jochen dröhnend.

«Nur, was Goebbels sagt. Das genügt doch, was?!«

«Ruf den Kreisleiter an!«

«Jetzt, am Sonntag? Ihr habt 'ne Meise.«

«Wenn bei mir 'ne Kuh eine Kolik hat, kommt der Viehdoktor! Ob am Sonntag, in der Nacht, zu Weihnachten oder Ostern. er kommt! Jetzt hat ganz Deutschland die Kolik. Kreuzdonnerwetter, da will ich hören, was die großen Viehdoktoren sagen!«

Felix Baum starrte Joachim Kurowski entgeistert an.»Soll ich das wörtlich dem Kreisleiter sagen?«

«Von mir aus.«

«Die verhaften dich sofort!«

«Dann bin wenigstens ich in Sicherheit, wenn die Russen kommen. Los, ruf in Ortelsburg an!«

«Die hängen dich wegen Wehrkraftzersetzung auf, Jochen!«

«Mich? Einen Kurowski? Der Kreisleiter? Der Ewald Tollak, der als Säugling in die Hose schiß, als ich bereits vor Verdun lag?«Opa Jochen griff nach dem Telefon, das neben dem Volksempfänger stand.»Soll ich telefonieren?«

«Bloß nicht!«Felix Baum stellte das Radio leiser, drehte eine Nummer und wartete. Dann knarrte eine Stimme, Baum nahm stramme Haltung an und sagte:»Herr Kreisleiter, hier ist Ortsgruppenleiter Baum aus Adamsverdruß. Ich rufe wegen einer komischen Sache an. Seit einer halben Stunde liegt ein dumpfes Grollen in der Luft. Nein! Ich habe keinen Durchfall und furze nach innen… es kommt aus Richtung Weichsel. Was? Ich soll keine Latrinenparolen verteilen? Jawoll, Herr Kreisleiter, ich habe eben auch den Reichspropagandaminister gehört, ein wunderbarer Artikel, jawoll… natürlich glaubt auch in Adamsverdruß jeder an den Endsieg, Adamsverdruß steht geschlossen hinter dem Führer… aber das ferne Grollen, Herr Kreisleiter, jawoll, ich war schon scheißen… der Wind trägt das Grollen mit sich. Ich verstehe, Herr Kreisleiter, hat nichts zu bedeuten, unsere Truppen haben die Sowjets zurückgeschlagen. Ja-woll, das wird es sein! Heil Hitler!«

Felix Baum legte den Hörer auf und wischte sich den Schweiß ab.»Ihr habt's gehört«, sagte er schwach.»Mensch, war das ein Anschiß! Übermorgen ist er hier. Dann schicke ich ihn zu euch!«

«Nur immer ran. «Paskuleit ging zum Fenster und riß es auf. Das Grollen war deutlich zu hören, aber irgendwie nicht greifbar, so weit weg war es. Baum zog die Schultern hoch.

«Ich sitze doch nicht auf 'n Ohren!«sagte er.»Und nun? Sollen wir packen?«fragte Jochen Kurowski.

«Packen? Wieso denn? Wollt ihr Panik machen? Nur weil's ganz weit donnert?«

«Haste mal auf die Landkarte geguckt?«Paskuleit holte aus seinem Sonntagsrock einen Bleistift und begann, auf der Tischdecke die Umrisse von Ostpreußen zu malen. Ganz unten, an der Grenze zu Polen, wo sie einen langen schwachen Bogen bildete, machte er ein Kreuz. Adamsverdruß. Baum verzichtete darauf, gegen die Bemalung seiner weißen Tischdecke zu protestieren. Wenn Julius Paskuleit etwas demonstrieren wollte, mußte man das hinnehmen.

«Na und?«fragte er bloß.»Ich hatte in Heimatkunde >gut< auf der Schule.«

«Hier ist die Weichsel. Hier steht der Russe! Zwischen ihm und uns ist Flachland. Und der Russe hat Panzer, die fahren so schnell wie ein Auto. Die verfluchten T34!«

«Und wir haben die Tiger-Panzer, die Leoparden.«

«Aber keinen Sprit, du Rindvieh!«

«Alles dumme Reden!«Felix Baum stellte die Marschmusik wieder lauter. Er brauchte seelische Stütze.»Das sind die neuen Dolchstöße in den Rücken! Noch nie waren unsere Armeen besser ausgerüstet wie jetzt!«

«Und die Rückzüge, du Schaf?«brüllte Opa Jochen.

«Strategische Frontverkürzungen. Je enger und kleiner die Hauptkampflinie, um so wuchtiger die Schläge! Wir lassen den Iwan kommen, immer kommen. und dann krachbum gibt es konzentriertes Feuer! Glaubt mir, der Führer weiß, was er will! Er ist ein Ge-nie!«