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Erna verließ das Landhaus nur noch selten. Sie saß meistens auf der Terrasse und blickte vor sich hin. Wenn sie ein Auto hörte, hob sich ruckartig ihren Kopf. Bremste der Wagen auf der Straße, fuhr sie hoch.

«Sie wartet und wartet.«, sagte Ellerkrug zu Ludwig, der samstags und sonntags von Köln herüberkam.»Es ist zum Heulen! Aber diesmal kommt er nicht wieder. Jetzt hält ihn nicht Sibirien fest, sondern eine Frau! Und daran sieht man, daß eine Frau gefährlicher sein kann als die furchtbarste Taiga. Hast du irgend etwas erfahren von deinem Vater?«

«Nein. «Ludwig schüttelte den Kopf.»Busko hat alles in Bewegung gesetzt, was man noch unter dem Mantel der Diskretion verantworten kann. Vater ist aus Neuenahr weg, hat dort angegeben, er fahre nach Hause, und seitdem ist er weg.«

«Er muß in Süddeutschland sein. «Ellerkrug legte eine Kurznachricht der Bank vor.»Vorgestern ist ein Scheck über 2.000-DM vorgelegt worden, von der Deutschen Bank in Rottach-Egern. Nach Wesel ist er also nicht.«

«Was nicht ausschließt, daß dieses Weib mit ihm am Tegernsee ist.«

Ellerkrug ging im Garten von Kurowskis Landhaus hin und her. Auf der Terrasse saß wieder Erna unter dem Sonnenschirm, eine blasse, blonde Statue der Sehnsucht. Was Ellerkrug und Ludwig miteinander besprachen, konnte sie nicht hören.

«Ich weiß nicht«, - sagte Ellerkrug —»aber meiner Meinung nach überbewertet ihr alle Ewalds Ausrutscher. Mehr ist es nicht, aber ihr spielt ihn hoch und treibt ihn zu Entscheidungen, die er nie gewollt hat.«

«Er soll sich der Gemeinheit, die er an Mutter begangen hat, bewußt sein«, sagte Ludwig,»dann ist viel gewonnen! Aber diese Mammutsturheit! Nur nicht zugeben! Nur nicht einmal den Kopf untern Arm nehmen. Das regt mich auf.«

«Wenn ihr wißt, wie Ewald ist, dann kommt ihm doch entgegen, verdammt nochmal!«

Ludwig Kurowski blieb stehen und blickte hinüber zu seiner Mutter. Seit Wochen sitzt sie nun da, dachte er. Man merkt nur an ihrem Atem, daß sie noch lebt. Ein Bild des Jammers. Vielleicht haben wir in Bad Neuenahr alle etwas zu heftig und leidenschaftlich reagiert, wir sind eben Kurowskis, wir schlagen drauf, wo man uns angreift, aber es ist nun geschehen, und wir müssen das Beste daraus machen. >Wir lassen uns nicht unterkriegen<… diesen Spruch brauchen wir jetzt mehr denn je.

«Irgendwann wird Vater doch von sich hören lassen«, sagte Ludwig stockend.»Ich glaube nicht, daß er Peter und Inge so einfach aufgibt, wenn er schon Mutter nicht mehr mag. Von mir ganz zu schweigen. Ich bin für ihn gestorben. Aber die Kleinen. Das ist meine ganze Hoffnung.«

«Meine auch.«, sagte Ellerkrug. Es war eine schwache Hoffnung.

Es war ein Abend voll Regen und Herbststimmung. Der Wind riß die welken Blätter von den Zweigen, nasse Kälte kroch in die noch sommerlich offenen Häuser, ein scheußlicher Tag im September.

Ellerkrug verhandelte in Leverkusen mit italienischen Schuhfabrikanten und fuhr dann mit ihnen nach Köln in eine StripteaseBar. Ludwig hockte in seinem Kölner Zimmer über medizinischen Vorlesungsnotizen, Peter hatte sich zur Geburtstagsfeier eines Schulfreundes abgesetzt, Inge übernachtete in Leverkusen bei einer Freundin. Erna war allein in dem großen Haus. Sie lief ein paarmal durch alle Zimmer, die plötzliche Einsamkeit war erdrückend, sie kam sich wie in einem pompösen Grab vor, lebendig begraben. Ihr ganzes Leben war sie noch nie so völlig allein gewesen wie heute, immer war jemand um sie herum gewesen, sie hatte nie das Gefühl gehabt, nicht mehr gebraucht zu werden. Im Gegenteil — ohne Erna Kurowski und Julius Paskuleit wäre die Familie in der roten Flut ertrunken, die damals, 1945, über Ostpreußen spülte und alles vernichtete.

Aber jetzt brauchte sie niemand mehr. Der Betrieb lief wie von selbst, die Kinder wurden immer selbständiger, Franz Buskos:»Wat nu, Meesterin?«hatte sich auch gewandelt… er hielt jetzt Parteireden auf Hochdeutsch und braute aus dem unerschöpflichen Schatz von Paskuleits und Ellerkrugs Rede-Entwürfen der vergangenen Jahre immer wieder neue, wie Posaunen schmetternde Ansprachen zusammen.

Ellerkrug ging im Geschäft völlig unter, er kam kaum noch zum Schlafen… nur sie saß herum und fragte sich oft: Würde man mich überhaupt vermissen, wenn ich plötzlich nicht mehr da wäre?

Gegen 22 Uhr verdichtete sich der Herbststurm. Die Bäume seufzten im Garten, der Wind riß die Äste kahl. Erna Kurowski stand hinter den hohen Fenstertüren der Terrasse und starrte in die Nacht. Sie hatte die Gartenscheinwerfer angestellt… hell beleuchteten sie die Buschgruppen und Blumenbeete und den kleinen runden Springbrunnen. Erna Kurowski wollte sich schon wieder abwenden, als sie den Mann durch den Garten kommen sah. Den Hut tief im Gesicht, den Kragen des Wettermantels hoch geschlagen, die Hände in den Taschen, so stapfte er durch die Buschgruppen und stieg die Treppe zur Terrasse hinauf.

Sie schrie auf, aber es war kein Entsetzensschrei, sondern ein Mischung aus Erlösung und wild hervorbrechender Freude. Sie riß an dem Riegel der Tür, bekam sie nicht so schnell auf, wie sie wollte, irgend etwas klemmte. da griff sie hinter sich, nahm einen Stuhl und schleuderte ihn in die große Scheibe. Der Wind trieb die Gardine durch das Loch und riß sie fast von der Stange, und dann kletterte der von Nässe triefende Mann durch die Fenstertrümmer und stand im Zimmer. Er nahm seinen Hut, behielt ihn wie ein Bettler in den Händen, und es war eigentlich wie damals, als Ewald Ku-rowski plötzlich vor der Tür stand, in seinem alten Militärzeug, den Staub Sibiriens noch in den Falten. Er stand genauso elend da, genauso durchnäßt, genauso stumm, genauso heimgekehrt.

«Komm rein, Ewald.«, sagte Erna mit brüchiger Stimme.»Mein Gott, wie siehst du aus! Ich habe gar keinen Wagen gehört.«

«Ich bin mit dem Taxi bis unten an den Abzweig gefahren und dann zu Fuß gekommen. Bist du allein?«

«Ja, Ewald.«

«Ich… ich. «Er sah sich um, in seinem Rücken pfiff der Wind durch die zertrümmerte Scheibe, der Regen wurde hineingepeitscht.»Der Teppich wird naß, Erna.«

«Geh rauf und zieh dich um!«Das Sprechen fiel ihr schwer, ihr Herz klopfte wie bei einem jungen Mädchen, das sich verliebt hat.»Soll ich dir Tee mit Rum machen?«

«Das wäre schön, Erna.«

Kurowski sah sie an. Augen eines bettelnden Hundes.»Ich habe das Taxi für eine Stunde später wiederbestellt.«

«Frisch gebadet lasse ich dich nicht in dieses Wetter hinaus!«

«Danke, Erna. «Er lächelte verlegen. Was wäre ich ohne diese Frau, dachte er. Mein Gott, wohin wäre ich gekommen? Diese Wochen allein, in den Hotels, in den Bierstuben, jeden Abend betrunken, es war schrecklich. Ich habe gebüßt, Erna, glaube es mir.»Wo sind die Kinder?«fragte er.

«Bei Freunden.«

«Man hat dich ganz allein gelassen?«Er ging auf sie zu, legte zag-haft den Arm um sie und wagte nicht, sie an sich heranzuziehen.»Du sollst nie wieder allein sein, Erna.«, sagte er mit schwankender Stimme.»Nie mehr. Glaub es mir.«

«Zieh dich um, Ewald.«Über ihr Gesicht zuckte es. Gleich muß ich weinen, dachte sie, aber das will ich nicht. Er muß seinen Tee mit Rum haben, gegen Erkältungen ist er besonders anfällig.»Leg dich ins Bett«, sagte sie und weinte nun doch.»Es war immer für dich bereit. Ich komme gleich nach, mit dem Tee.«

Die Familie Kurowski brach nicht auseinander. oder soll man sagen, noch nicht? Auch bei den Kurowskis wuchs eine neue Generation heran, und sie sah das Leben anders als die Kriegsgeneration.

Es fing damit an, daß eines Tages Peter, der zweite Sohn, mit engen Nietenhosen und schwarzer, glänzender Lederjacke von der Schule nach Hause kam und um den Hals das Ritterkreuz trug. Er kam ins Haus, grinste seine Mutter an, warf sich Kurowski gegenüber in einen Sessel und knallte die Stiefel auf den Couchtisch.