Выбрать главу

Als er am Ende seiner Runde bei Pfarrer Heydicke ankam, konnte er kaum noch gehen und fiel mit glasigen Augen auf das alte Ledersofa.

«Ich möchte beichten«, sagte er mit schwerer Zunge.»Herr Pfarrer, auch wenn ich besoffen bin, — ich möchte beichten. Was sagt Gott dazu: Ich habe Weihnachten ein ganzes Dorf belogen! Und ich habe Angst! Keine Nacht schlafe ich mehr. Ich bin ein so erbärmliches Schwein, Herr Pfarrer.«

Er legte den Kopf auf die Tischplatte und heulte.

Pfarrer Heydicke ließ ihn weinen. Nach einer Stunde gab er Felix Baum Salatöl zu trinken, der Ortsgruppenleiter kotzte erbärmlich, aber dann war er so nüchtern, daß man mit ihm vernünftig reden konnte.

«Was ist nun?«fragte Pfarrer Heydicke.»Was wissen Sie, Baum?«

«Die Kreisleitung verlegt nach Allenstein. Provisorisch.«

«Sauber. Und das soll keiner wissen?!«

«Um Himmels willen, nein. «Baum trank ein halbes Glas Sprudel, rülpste, sagte verschämt:»Entschuldigung, Herr Pfarrer«, und starrte dann aus dem Fenster auf den Schneesturm.»Aber ich mußte es Ihnen sagen. Ich habe auch meinen Zivilanzug neben dem Bett liegen, griffbereit. Ich bin ein Feigling, nicht wahr?«

«Der Mensch ist schwach«, sagte Pfarrer Heydicke ausweichend.

«Aber es ist gut, daß Sie den Weg zu mir gefunden haben. Wann wird der Russe angreifen?«

«Das weiß wirklich keiner. «Baum stand auf. Es war zwei Uhr morgens, und es bestand keine Gefahr, daß man ihn um diese Zeit und bei diesem Schneetreiben aus dem Pfarrhaus kommen sehen würde.»Ich habe Telefon, Herr Pfarrer. Rufen Sie bitte jeden Tag zweimal an. Wenn's soweit ist, können Sie ja die Glocken läuten. Ich warte nur auf den Befehl der Kreisleitung.«

Das neue Jahr begann mit klirrendem Frost, aber einem klaren Himmel. Die Familie Kurowski, die um Mitternacht mit Gläsern voll heißem Tee und einem Schuß Korn darin an den Fenstern stand, umarmte sich, küßte sich und sagte das» Ein gutes neues Jahr «wie ein Gebet.

«Es ist so still. «sagte Opa Joachim später zu Paskuleit. Die Kinder waren im Bett, Oma Berta war im Sessel eingeschlafen, Erna Kurowski strickte an einem dicken Schal für den vierjährigen Peter.»Das gefällt mir gar nicht.«

«Erst ist's dir zu laut, dann zu leise — du weißt auch nicht, was du willst«, sagte Paskuleit.

«Du warst nie im Krieg!«schrie Kurowski. Das neue Jahr sollte sehen, daß er noch immer mit seinen 72 Jahren der >Brüll-Jochen< war.»Im Kriege ist es immer am gefährlichsten, wenn es still ist! Was sagt man draußen?«

«Nichts. «Paskuleit dachte an den verhafteten Hans Kampken. Man hatte ihn in Allenstein erschossen, wie erwartet. Wegen Wehrkraftzersetzung. Ein Sondergericht hatte ihn gar nicht erst angehört, das Urteil gefällt und innerhalb einer Stunde vollstrecken lassen. Ein Viehhändler aus Allenstein, der es von seinem Schwager wußte, der Schmied bei der Division war, berichtete nur guten Freunden, Kampken habe kurz vor dem Kommando» Feuer!«noch geschrien:»Euch wird die Wahrheit noch den Arsch aufreißen!«Dann trafen ihn vierzehn Kugeln, alle in die Brust. Man hatte gute Schützen in das Exekutionskommando genommen.

«Irgend etwas muß man doch sagen!«knurrte Kurowski eigensinnig.

«Die Kartoffelernte wird schlecht.«

Opa Jochen starrte Paskuleit an, überlegte, ob er am ersten Tag des neuen Jahres einen Krawall machen sollte, winkte dann großzügig ab und ging ins Bett. Oma Berta nahm er mit.er knuffte sie in die Seite, um sie aufzuwecken, sie quiekte, rappelte sich aus dem Lehnsessel und tappte ihrem Mann nach. Paskuleit und Erna waren allein.

«Morgen belade ich die beiden Wagen«, sagte er.»Den großen Leiterwagen und die Kutsche. Du hast doch alles gepackt?«

«Bis auf das Nötigste. «Erna Kurowski sah ihren Schwager mit weit aufgerissenen Augen an.»Du weißt mehr, als du sagst, Julius.«

«Ich werde auf keinen Fall warten, bis man uns amtlich zur Räumung auffordert.«

«Aber wir haben doch nur zwei Pferde… für den Leiterwagen.«

«Ich habe vor vier Tagen in Ortelsburg zwei Pferde gekauft. gegen zehn Häute Leder. Morgen hole ich sie ab. Und in Deutschwalde steht ein Traktor, den habe ich auch gekauft. Er hat dein Klavier gekostet.«

«Das Klavier?«Erna warf den Schal weg.»Julius, du kannst doch nicht einfach Ewalds Klavier gegen einen Traktor eintauschen!«

«Willst du's auf dem Buckel mitschleppen, bis Berlin vielleicht oder bis Kolberg?«

«Aber wenn Ewald.«

«Dein Mann hätte nichts anders getan! Mit 'nem Klavier kann-ste nicht über die Straßen rollen, aber mit 'nem Traktor! Ein Traktor kann unser Leben bedeuten… oder willst du hier sitzen und >An Elise< spielen, wenn der Russe vor der Tür steht?! Mein Gott, ich könnte die Wand hoch gehen vor Freude, daß wir 'nen Traktor haben, und du meckerst 'rum!«

Paskuleit trat ans Fenster. Die Nacht zum 1. Januar 1945 war so schön, wie eine Neujahrsnacht sein soll. Ein weiter Himmel, ein Meer von Sternen. Und glitzernder Schnee über dem Land.

«Hast du schon einmal daran gedacht, daß wir Adamsverdruß nie wiedersehen werden?«fragte er leise.

«Daran denke ich nicht. Das ist unmöglich.«

«Wenn der Russe hierbleibt?«

«Noch ist er nicht da, Julius.«

«Oder der Pole, weiß man's?«

«Daß du so etwas denken kannst, Julius. Hier ist doch Deutschland.«

«Wie lange noch?«

«Seit ein paar hundert Jahren. und auch weitere Hunderte von Jahren.«

«Oder so lange, bis Rokossowskij und Tschernjakowski uns in die Zange nehmen und zerquetschen. Wer soll Ostpreußen zurückerobern? Unsere ausgelaugten Truppen? Unsere Divisionen, die ihre Munition zählen müssen? Unsere Panzer, die keinen Sprit mehr haben?«

«Du siehst zu schwarz«, sagte Erna Kurowski.»Hast du Goebbels nicht im Radio gehört? 1945 ist das Jahr des Sieges.«

«Das stimmt. «Paskuleit trat vom Fenster zurück. Der weiße, glitzernde Frieden da draußen rührte ihn zu Tränen.»Es fragt sich nur, wer hier siegt.«

Am 12. Januar, am Vormittag, an einem Tag, der vor Frost klirrte und jeder Laut in der Kälte mehrmals zerbrach, brüllte rund um Ostpreußen das Land auf. Ein feuerspeiender Ring schleuderte Tod und Vernichtung auf die deutschen Divisionen, die sich in den eisharten Boden duckten und auf das Anrollen der sowjetischen Armeen warteten. Schon am frühen Nachmittag erkannte man die ungeheure Konzentration und die Stoßrichtungen der roten Fronten. Nicht nur Ostpreußen sollte umklammert werden — Marschall Schu-kow marschierte in Richtung Berlin, die Armeen Konjews und Pe-trows rollten Schlesien auf. Bei Baranow in Westgalizien setzten die Sowjets über die Weichsel, und aus diesem Brückenkopf heraus rollten ihre Panzer und brachen die deutsche Mittelfront auf. Das weite Land westlich der Weichsel lag wie ein Tisch da, über den man jetzt eine Decke aus Blut ausbreitete.

Von allen Seiten strömten die Flüchtlinge nach Westen und Norden. In Eydtkau und Goldap, Treuburg und Lyck, Johannisburg und Neidenburg, Deutsch-Eylau und Marienwerder wurden Auffanglager eingerichtet, Tilsit wurde von Flüchtlingstrecks überflutet, aber sie blieben nicht lange, denn schon drei Tage später schoß schwere sowjetische Artillerie in die Stadt. Eine lange Schlange vermummter Menschen, mit Handkarren, Pferdewagen, Traktoren, Kutschen und Schlitten wälzte sich aus dem Protektorat bei Flammberg über die Grenze.

Ortsgruppenleiter Felix Baum rannte wieder durch Adamsverdruß und mahnte zur Ruhe. Die Kreisleitung in Allenstein schrie ihn an, wenn er mehrmals täglich telefonierte und um einen Lagebericht bat.»Sie haben an den Führer zu glauben, an nichts anderes!«brüllte jemand, der sich Lumenski nannte. Baum hatte den Namen nie gehört, aber wer in der Kreisleitung brüllt, hat immer Recht.