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Am 16. Januar sah man in der klaren Frostnacht den Feuerschein der Front. Franz Busko, Paskuleits Schustergeselle, hockte oben neben der Glocke im Kirchturm und brüllte herunter, was er sehen konnte. Ein ewiges Donnern lag in der Luft. Wenn man das Radio anstellte, erklang fröhliche Operettenmusik, oder Fanfaren kündeten Sonderberichte an, die immer mit einem Sieg deutscher Truppen irgendwo in Ost und West endeten.

«Es wird Zeit«, sagte Pfarrer Heydicke zu den Adamsverdrussern, die vor der Kirche standen. Auch Ortsbauernführer Lusken mit der gelähmten Juliane Brakau im Rollstuhl war gekommen. In der Kirche, vor dem Altar, saß Felix Baum, hilflos, mit gefalteten Händen, in einer Parteileiter-Uniform, die ihm in den letzten Tagen zu groß geworden war.

Von der Kreisleitung war kein Befehl mehr gekommen. So oft er anrief, man nahm den Hörer nicht mehr ab. Schließlich ertönte nur noch das Besetztzeichen.»Sie haben uns vergessen.«, sagte er mit starren, ungläubigen Augen, als sich Paskuleit — eben ihn setzte.»Die Schweine haben uns vergessen! Bei Klein-Grieben stehen schon rus-sische Panzer an der Grenze. Und die spielen noch immer Operetten und Goebbels hat gestern gesprochen. «Er weinte plötzlich, zog seinen Uniformrock aus, warf ihn vor den Altar auf die Stufen und lehnte sich wie ein Kind an Paskuleit.

«Ich glaube nicht, daß Gott deine Mistuniform als Stiftung annimmt«, sagte Paskuleit und schob Baum von sich.»Es ist immerhin gut, daß du Rindvieh jetzt wach wirst! Wo ist denn dein Führer?«

«In Berlin.«

«Und der Endsieg?«

«Wenn wir in Sicherheit sind, kannst du mich hundertmal in den Arsch treten, Julius.«

«Wenn wir überhaupt hier rauskommen. Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht? Wohin denn?«

«Keine Ahnung.«

«Aber ich. Wir ziehen zuerst nach Westen. Ortelsburg, Hohenstein, Osterode, Saalfeld, Marienburg. Nach Danzig! Und dann ab nach Pommern. Immer an der Küste lang. wenn uns vorher keiner mitnimmt. Es wird doch noch Züge in den Westen geben.«

«Und die ganzen Klamotten? Die Pferde, Wagen, Möbel, Betten, Herde, das Geschirr.«

«Es wäre zu schön, wenn wir's retten könnten. Wir nehmen's mit. aber glaubst du wirklich, wir kommen damit bis an die Elbe? Die russischen Panzer sind schneller als ein Zugochse. Und die Straßen sind vereist.«

Am Nachmittag sammelte sich Adamsverdruß zum Abmarsch. Vor der Kirche fuhren sie auf, Wagen neben Wagen, mit Pferden oder Ochsen bespannt, mit Traktoren oder auch nur Kühen, die störrisch im ungewohnten Joch trampelten. Paskuleit fuhr seinen gegen das Klavier eingetauschten Traktor und zog den Miststreuwagen. In ihm saß in einem Haufen Stroh und von Möbeln umgeben, als müsse man sie festklemmen, Oma Berta. Großvater Jochen hockte auf dem Fuhrsitz des Leiterwagens und lenkte die beiden Pferde, die Paskuleit in Ortelsburg gegen zehn Lederhäute gehandelt hatte. Im Wagen stapelte sich der Hausrat der Kurowskis und die halbe Schuhmacherwerkstatt, alle Werkzeuge und Geräte, der Herd, Töpfe, Federbetten, Decken und eine Eckbank, auf die Opa Jochen nicht verzichten wollte. Sie war 1871 zur Reichsgründung geschnitzt worden. Erna Kurowski saß auf dem Bock der Kutsche, hinter sich, dick in Decken vermummt, die Kinder. Franz Busko, der Geselle, war als Verbindungsmann eingeteilt. er sollte da helfen, wo es nötig war.

Es begann sanft und lautlos zu schneien, als Pfarrer Heydicke die Leute von Adamsverdruß segnete.»Gott mit euch!«sagte er, schlug das Kreuz, kletterte auf seinen Bauernwagen und fuhr an. Er übernahm die Spitze, ihm folgte Paskuleit, dann die Familie Kurowski. Der große Treck begann.

Kapitel 3

Sie waren im letzten Augenblick aufgebrochen. Das zeigte sich, als sie die Straße von Johannisberg nach Ortelsburg erreichten. Hier stauten sich die Fahrzeuge, verkeilten sich ineinander, nur schrittweise ging es manchmal vorwärts. Soweit man die Straße überblicken konnte: Wagen hinter Wagen, Pferdeköpfe, brüllende Kühe, Traktoren, dazwischen, verloren, geradezu lächerlich, ein paar Autos mit dem roten Winkel auf dem Nummernschild… unabkömmliche Wagen, für den Heimateinsatz nötig, mit Benzinscheinen versorgt. Von allen Seiten wälzten sich die Menschenschlangen heran, vor allem aber von der Grenze, von Fischborn, Gehlenburg, Lyck. Ein anderer großer Treck zog vom Sammelpunkt Neidenburg nach Allenstein, der dritte von Marienwerder nach Marienburg. Sie alle hatten nur ein Zieclass="underline" Die Küste. Danzig. Das Meer. Pommern. Mecklenburg. Berlin. Hinein in das unbedrohte Deutschland. Hinüber zu den Brüdern im Westen. Dort fielen zwar jeden Tag Tausende von Bom-ben, Sicherheit war nirgendwo, aber lieber Tag und Nacht in einem Keller warten und beten, als eine einzige Stunde die rote, erbarmungslose Flut aus den Weiten Rußlands erleben.

Der Treck aus Adamsverdruß wußte noch nicht — und das war gut so —, daß von allen Seiten die Flüchtenden zusammenströmten. Ihm genügte schon, daß es auf der Straße nach Ortelsburg nicht weiterging.

«Der Russe holt uns ein!«sagte Paskuleit zu Pfarrer Heydicke, der noch immer an der Spitze fuhr. Es war wie damals, als das Volk aus Ägypten zog und Moses folgte… nur wußte man eins: Dieses rote Meer, das jetzt um sie herum über die Ufer trat, würde sich nicht vor ihnen teilen.»Wenn das hier so weitergeht bis Danzig, können wir uns gleich an den Weg setzen und auf die Russen warten.«

Ortsgruppenleiter Felix Baum, der seine gelbbraune Uniform gegen seinen Anzug vertauscht hatte, den er früher immer getragen hatte, einen guten derben Bauernanzug mit grüner Joppe, Stiefelhosen, Filzstiefeln und darüber einen gefütterten Mantel, ratterte mit einem Motorrad durch die Wagenreihen der Adamsverdrusser und zog alle Flüche und Bitten auf sich wie ein Magnet. Er hatte kein Gepäck bei sich, dafür auf dem Hintersitz seines Motorrades drei Kanister mit Sprit und im Wagen Paskuleits nochmal zehn Kanister. Außerdem besaß er einen Ausweis der Gauleitung, daß er überall Benzin fassen durfte. Das war jetzt mehr wert als ein ganzer Wagen voller Geld. Solange Baum beim Treck blieb, hatte man Sprit. So glaubte man.

«Fahr vor und sieh nach, was da los ist!«schrie ihm Paskuleit zu.»Wozu bist du ein Parteibonze?! Da ist doch irgendeiner, der den Weg sperrt! Tritt ihn in den Arsch!«

Felix Baum donnerte los. Mit seinem Motorrad kam er gut durch alle Stockungen, fuhr Slalom um die dicht an dicht aufgefahrenen Bauernwagen und erreichte nach sechs Kilometern die Weggabelung bei Groß Jerutten. Hier stand ein Hauptmann der Feldgendarmerie mit vier Mann, sperrte die Straße und ließ von Friedrichshof eine lange Militärkolonne auf die Chaussee nach Ortelsburg.

Troßfahrzeuge, Werkstätten, eine Feldbäckerei, eine Schmiede, Kastenwagen mit gut genährten Stabsintendanten in dicken Lammfellmänteln, eine Divisionsschreibstube, zehn schwere Horch-Wa-gen mit Stabsoffizieren, dahinter wieder Lastwagen mit Büromaterial und sogar ein vollständiger Musikzug. Aber kein Sanitätsauto, kein Munitionswagen, keine müden, abgekämpften, hohlwangigen Fronttruppen.

Felix Baum staunte. Dann überkam ihn eine mächtige Wut. Zum erstenmal in seinem Leben vielleicht war er mutig, stand er nicht bloß stramm und gehorchte ohne zu denken. Er sah, wie die Männer an der Spitze des kilometerlangen Flüchtlingstrecks mit dem Hauptmann auf der Kreuzung verhandelten; Bauern, in langen Mänteln, Greise und alte Frauen schrien auf ihn ein, und Baum wußte, daß jede Minute die Schlange der vor den Russen Flüchtenden länger wurde und daß von allen Seiten die sowjetischen Panzerspitzen über die Grenze stießen.

Er gab Gas, raste mit seinem Motorrad auf die Kreuzung und bremste ein paar Zentimeter vor dem Hauptmann. Der hatte einen roten Kopf von der Kälte und vom dauernden Brüllen, starrte Baum an und schrie ihm etwas zu, was im Lärm der Motoren einer neuen Troßkolonne unterging.