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«Die Straße frei!«schrie Baum zurück. Er mußte sich dazu nahe zu dem Hauptmann vorbeugen.»Da hinten warten Tausende.«

«Zuerst die Truppe!«brüllte der Hauptmann zurück.

«Wo sind hier denn Truppen?«schrie Baum.»Nur vollgefressene Etappensäcke! Zahlmeister und Großfressen! Wo ist hier ein Soldat? Die stehen da hinten an der Grenze, und hier haut alles ab! In Pelzmänteln! Mit dem Sprit, den unsere Panzer vorne brauchen! Ihr Lumpen!«

«Ich verhafte Sie!«Der Hauptmann der Feldgendarmerie griff nach seiner Pistolentasche. Sein Gesicht war geschwollen vor Zorn.»Im Namen des Führers.«

«Ich scheiße auf deinen Führer!«brüllte Baum zurück.»Ich bin Ortsgruppenleiter, und wenn du Idiot schießen willst, ich kann das auch!«Er riß aus der Manteltasche seine Pistole, und das ging schneller als das Lösen der Lederschlaufe an der Pistolentasche.

«Mann! Sind Sie verrückt?«Der Hauptmann blickte sich nach seinen vier Männern um. Aber die waren plötzlich nicht mehr da. Eine geballte Masse zu allem entschlossener Männer hatte sie einfach überrollt, als Baum mit seinem Eingreifen die Scheu vor der Uniform genommen hatte. Jetzt besetzten die Bauern die Kreuzung, die Verkehrskellen der vier verschwundenen Feldgendarmen tauchten auf, eine Reihe Leiber versperrte jetzt die Kreuzung, die roten Stopzei-chen blinkten. Knirschend hielt der erste Wagen, dem sich das Hindernis in den Weg stellte. Ein Küchenwagen, mit dampfendem Kessel. Im Fahrerhaus saß ein feister, mondgesichtiger Zahlmeister. Hinten, neben dem Kessel, in wohliger Wärme, hockten in dicken Mänteln die Köche. Ein Oberfeldwebel und zwei Unteroffiziere. Nach dem Küchenwagen bremste ein Schreibstubenlaster, dahinter eine Werkstatt… und dann Wagen an Wagen. Es war, als bestände die ganze deutsche Wehrmacht nur aus Troßfahrzeugen.

«Ich bringe Sie vors Kriegsgericht!«brüllte der Hauptmann.»Sie verhindern den Aufmarsch einer Armee!«

«Ich rette mein Dorf — «sagte Baum, plötzlich ganz ruhig. Er sah, wie sich die Flüchtlingstrecks endlich wieder in Bewegung setzen konnten. Die Bauernwagen mit den Pferden, die Trecker, die Kühe, die trostlose Fracht aus Betten, Tischen, Kommoden, Töpfen, Körben und Säcken, aus Greisen, Kindern und Frauen rollte langsam hinter ihm vorbei. Das machte ihn glücklich. Ich bin doch noch zu etwas nutze, sagte er sich. Vielleicht rechnen sie mir das an, eine gute Tat gegen hundert dämliche Parteireden, die ich gehalten habe. Einmal Wahrheit gegen tausend Lügen.

Die lange Troßschlange begann wild zu hupen. Offiziere liefen nach vorn und brüllten die Bauern an. Aber das waren Ostpreußen, mit Schädeln so dick wie das Eis auf den Seen im Frost und so standhaft wie die jahrhundertealten Bäume in den weiten Wäldern rund um Masuren. Sie fielen vor Stimmen nicht um, auch nicht, wenn diese Stimmen aus Uniformen mit silbernen Schulterstücken klangen. Sie starrten die Offiziere aus zusammengekniffenen Augen an, und einer aus dieser Mauer auf der Kreuzung sagte langsam zu einem Stabsintendanten:

«Maanchen, wennste nich weggehst, scheiße ich dich in die Luft.«

«Das ist Revolution!«brüllte der Hauptmann. Er griff wieder zur Pistolentasche.

«Laß stecken, Maanchen.«, sagte Baum breit.

«Sie Verräter!«Der Hauptmann hatte seine Pistole frei. Aber er kam nicht dazu, sie auf Baum anzulegen. Mit einer Ruhe, die er selbst nicht verstand, drückte Baum zuerst ab. Der Schuß traf den Hauptmann in den rechten Oberarm, stieß ihn zurück, er rutschte auf dem vereisten Boden aus und fiel auf die Knie. Ungläubig starrte er Felix Baum an und preßte die Linke auf seinen durchschossenen Arm. Unter seinen Fingern quoll träge Blut hervor.

Baum kümmerte sich nicht mehr um ihn. Er wendete sein Motorrad und raste die Kolonne zurück. Drei Bauern hoben den Hauptmann von der Straße, stützten ihn und brachten ihn zum Küchenwagen. Der Intendant im Fahrerhaus war bleich geworden und zitterte, als einer der Bauern die Tür aufriß.

«Kümmert euch um ihn!«sagte er.»Ein Heimatschuß! Aber wo ist denn noch die Heimat?«

«Ihr seid verrückt geworden.«, stotterte der Zahlmeister.

«Und ihr? Warum seid ihr nicht vorn an der Front, he? Wo wollt ihr denn hin? In Sicherheit, was? Aber erst die Zivilbevölkerung, Maanchen! Soldaten gehören nach vorn.«

Er ließ den Hauptmann stehen, an den Wagen gelehnt, und rannte zurück zur Kreuzung. Dort standen sich Offiziere und Bauern gegenüber. wehrlose Männer, die hinter sich ihre Frauen und Kinder, Enkel und Urenkel vorbeirattern hörten, und Männer mit Waffen in den Händen, die ebenfalls nach Norden und Westen wollten.

Aus dem Lautsprecher eines Batterie-Radios im Schreibstubenwagen tönte die Stimme des Nachrichtensprechers des Großdeutschen Rundfunks. Eine Sondermeldung. In der Nordsee ein Geleitzug angegriffen, 300.000 Tonnen versenkt. Im Westen erfolgreicher Abwehrkampf westlich Straßburgs. In Ungarn Angriffe der 6. SS-Panzerarmee gegen Budapest. Aber kein Wort von Ostpreußen, nichts von der Weichsel, vom Narew, vom Njemen und der Memel. Erst am Ende, ganz beiläufig, ein Satz:»Deutsche Verbände stehen in einem erbitterten Abwehrkampf gegen starke russische Kräfte im Weichselbogen.«

«Sind wir nichts?«sagte ein alter, weißbärtiger, riesiger Bauer in der ersten Reihe der lebenden Mauer auf der Kreuzung.»Hast du's gehört, Major? Nichts von uns! Und dabei ist das ganze Land auf der Straße. Schießt nur. hinter uns kommen andere, und immer wieder andere, bis ihr keine Munition mehr habt. Wir ziehen nach Danzig, und ihr hindert uns nicht mehr daran.«

Die beiden Mauern blieben stehen. Die Offiziere begannen zu verhandeln. Ein Oberst unterbreitete einen Vorschlag.»Ihr zieht in Dorfgemeinschaften«, sagte er.»Gut. Machen wir es so. Wenn ein Dorf durch ist, darf eine Kolonne von uns weiter. Dann das nächste Dorf, dann wir… und so weiter. Ein vernünftiger Rhythmus, das müssen Sie zugeben.«

Darauf einigte man sich.

Das Dorf Altkelbunken zog vorbei, dann wurde die Kreuzung freigegeben für zwanzig Militärfahrzeuge. Ihnen folgte das Dorf Kru-tinnen. Darauf zwei Werkstätten und ein mobiles Verpflegungslager. Hinter ihm schloß sich das Dorf Adamsverdruß an.

«Besser kann's gar nicht sein«, sagte Opa Jochen zufrieden.»Zu fressen in Hülle und Fülle vor uns. Julius, sag dem Pfarrer, er soll immer hart am Mann bleiben! Haste schon mal was von Piraten gelesen, Jungchen?«

Paskuleit erriet die Gedanken des Alten und tippte sich an die Stirn. >Brüll-Jochen< schrie auf, — aber der Treck ging weiter, und er mußte sich um die Pferde kümmern. Dicke Eisbrocken hingen ihnen an Mähnen und Beinen und an den Nüsterhaaren. Es begann wieder zu schneien.

Sie zogen fünf Tage hinter den Verpflegungswagen her.

Nach Allenstein kamen sie gar nicht mehr hinein. Es war abgeriegelt, eine neue Frontlinie baute sich hier auf, der Russe stieß schneller vor, als man berechnet hatte. Der Treck wurde bei Alt-Märtinsdorf auf eine schmale Landstraße umgeleitet in Richtung Wartenburg. Schon bei Passenheim war ein großer Teil der Flüchtlinge abgeschwenkt in Richtung Bischofsburg. Nach Norden, nach Heilsberg, und von dort über Landsberg, Zinten nach Heiligenbeil. Zum Frischen Haff, dann hinüber auf die Nehrung, und auf dem schmalen Landstreifen westwärts zur Weichselmündung und nach Danzig. Das war das große Ziel.

Auch Adamsverdruß stand an der Kreuzung Passenheim vor dieser Frage.

«Nein!«sagte Paskuleit nach einer kurzen Beratung.»Nicht diesen Bogen! Auf schnellstem Wege nach Elbing und dann weiter. Warum wieder nach Osten? Weiß man, was mit Königsberg wird?«

«Da kommt der Russe nie hin!«rief Felix Baum.

«Er fängt schon wieder an!«brüllte Opa Jochen.»Warum verklebt ihm keiner die Parteischnauze?! Wir ziehen dahin, wo die Verpflegungskolonne hingeht.«

«Er denkt nur ans Fressen«, stöhnte Franz Busko, der Geselle. Er hatte in diesen fünf Tagen mit seinem Fahrrad weitere Ausflüge nach vorn unternommen, genau wie Baum, der sogar mit seinem Ausweis nach Allenstein hineingekommen war. Die Kreisleitung war längst fort. Er fand nur verlassene Büros und viel verbranntes Papier. Im Zimmer des Kreisleiters wohnten drei Quartiermacher irgendeines Regimentsstabes.