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«Vielleicht ist sie mit der Versorgungskolonne mitgefahren?«sagte Paskuleit.»Du hast ihr ja immer vorgeredet: Essen ist das wichtigste.«

«Zurück!«brüllte Opa Jochen wieder. Verzweifelt suchte er noch einmal in dem langen hohen Bauernwagen. Felix Baum raste noch einmal zurück zur Kreuzung beim Bahnhof Schlobitten. Er war kaum weg, fand Kurowski seine Frau. Tief unten im Stroh, unter einer Decke und zusammengerollt unter dem Küchentisch. Es war ein Rätsel, wie sie hier Luft bekam, — aber sie schlief fest und glücklich in der eroberten Wärme. Außerdem war sie schwerhörig.

«Da ist se«, sagte Opa Jochen.»Undenkbar, daß ich meine Alte verliere. «Es lag soviel Zärtlichkeit in seiner Stimme, daß Paskuleit darauf verzichtete, Kurowski einen Idioten zu nennen. Er deckte Oma Berta wieder mit der Decke und dem Stroh zu und winkte zum ersten Wagen, zu Pfarrer Heydicke.»Weiter!«

Die Kolonne der Wagen und Pferde, Ochsen und Kühe setzte sich wieder in Bewegung. Keiner von diesen Menschen, die der Vernichtung davonliefen, ahnte, daß seitlich von ihnen der Russe durchbrach, daß sie bereits von Deutschland, ihrer großen Sehnsucht, abgeschnitten waren und daß sie zufällig durch einen schmalen, noch nicht eroberten, freien Schlauch Land zogen. Links und rechts von ihnen und hinter ihnen brannten die Dörfer, starben die Menschen auf den Straßen, wurden wie Vieh zusammengetrieben, rollten Panzerketten über steifgefrorene Leiber, drückten T34 die Wagen in die Gräben, ging Ostpreußen unter in Feuer, Blut und Tränen.

Die Adamsverdrusser aber zogen weiter wie unter der hohlen Hand Gottes. Sie hatten Kühe bei sich, geschlachtete und im Frost bestens konservierte Hühner und Schweine, zwanzig Kisten Konserven und Wurst, Fässer mit Butter und Schmalz, Säcke mit Zucker, Mehl und Hafer. Sie hatten vorgesorgt, weil Paskuleit es ihnen geraten hatte.

«Kinder, was habt ihr mich als Ortsgruppenleiter beschissen«, sagte Baum ein paarmal.»Monatelang.«

«Jahrelang, du Rindvieh. «Paskuleit lachte dunkel.»Seit zwei Jahren haben wir schwarz geschlachtet und gehortet! Grenzland — unruhiges Land… das haben wir schon in der Schule gelernt. «Und zu Erna Kurowski, die wie ein Mann die Kutschpferde dirigierte und ihre Kinder ebenfalls beim Einbruch des grausamen Frostes wie Hundewelpen unter Stroh gesteckt hatte, sagte er:»Sag's keinem weiter, aber ich glaube nicht, daß wir alle zusammenbleiben können. Es kommt einmal der Tag, wo jeder für sich selbst sorgen muß. Aber wir, Erna, wir Kurowskis und Paskuleits, wir bleiben zusammen. Sie müßten uns schon einzeln abhacken wie Äste von einem Baum!«

Sie zogen über Nebenwege, über Neumarck, Ebersbach, Tied-mannsdorf, Schalmey und quer übers Feld nach Pettelkau, weil neue Trecks die Straßen blockierten. Dörfer, die im Aufbruch waren wie vor vierzehn Tagen Adamsverdruß. Menschen, von der Angst getrieben.

Kurz vor Braunsberg geschah das gleiche wie vor einigen Tagen: An der Kreuzung der beiden Straßen stand ein Mann, diesmal in der Uniform eines Politischen Leiters, und regelte den Verkehr. Von Mehlsack wälzte sich eine Kolonne Privatwagen heran, drückte die Flüchtlingsfahrzeuge an den Straßenrand und brauste durch den aufstaubenden Schnee. Die gelben Uniformen hinter den beschlagenen Scheiben waren nicht zu übersehen.»Gelb wie Kinderscheiße!«hatte Opa Jochen sie genannt.

«Sieh nach!«sagte Paskuleit bloß. Felix Baum sauste los. Er bremste sein Motorrad vor dem Mann auf der Kreuzung und hob die Hand zum Gruß.»Ich bin Ortsgruppenleiter Baum aus Adamsverdruß!«rief er.»Heil Hitler, Kamerad!«Dann gab er dem Verdutzten eine gewaltige Ohrfeige, der Mann rollte in den Schnee, Busko ließ einen Wagen quer über die Kreuzung stellen, und die Adamsver-drusser hatten Vorfahrt.

«Er wird immer nützlicher, der Felix«, sagte Paskuleit anerkennend.»Leider ein paar Jahre zu spät.«

Sie kamen nach Braunsberg hinein und wurden aufgesaugt von Hunderten Wagen und Tausenden von wartenden Menschen. Opa Jochen, Paskuleit, Pfarrer Heydicke, Busko und Lusken sammelten Informationen. Ortsgruppenleiter Baum fragte sich durch, bis er einen Parteigenossen fand, der noch Dienst tat… im Rathaus von Braunsberg saßen noch eine Dienststelle der NSV und der Leiter des Wirtschaftsamtes mit zwei Mann und einigen Tausend Lebensmittelkarten, die jetzt wertloser waren als Klosettpapier. Alles war ratlos. Braunsberg schien die Endstation zu sein.

«Es stimmt«, sagte Pfarrer Heydicke nach drei Stunden, als alle wieder beim Treck waren.»Königsberg ist eingeschlossen. In Pillau sitzen die Russen bereits. Um Marienburg wird gekämpft. Panzerkeile der Russen stoßen nach Danzig und nach Pommern. Alles ist zu! Wohin jetzt?«

«Zum Haff!«sagte Paskuleit.

«Und dann?«

«Auf die Nehrung.«

«Wir können nicht übers Wasser wandeln wie Jesus.«

«Aber wir können über das Eis fahren. Das Haff ist vereist.«

«Das ist unmöglich.«, sagte Heydicke leise und starrte Paskuleit an.»Auf dem Eis sind wir wie auf dem Schießstand. Ein paar Bomben. und ganz Adamsverdruß ersäuft.«

«Bleiben wir hier, überrollt uns der Russe.«

«Wir sind am Ende, Julius.«

«Wir sind nie am Ende, Herr Pfarrer. «Er nahm seine halb gerauchte Zigarette aus dem Mund und hielt sie Heydicke hin. Der nahm sie und rauchte weiter.»Wir lassen uns nicht unterkriegen. das ist die beste Predigt, Herr Pfarrer.«

Sie blieben zwei Tage in Braunsberg, bis sich drei große Trecks gebildet hatten. Sie schlossen sich einer Kolonne an, die über Frauenberg nach Tolkemit ziehen wollte, um dort übers Haff zu kommen. Hier fror es immer besonders dick zu, und in strengen Wintern konnte man von Tolkemit hinüber zum Seebad Kahlberg auf der Nehrung mit dem Schlitten fahren.

Als sich Heydicke, Paskuleit und Opa Jochen bei dem Führer des Trecks meldeten, sahen sie verblüfft, daß es ein junger Oberleutnant war. Um seinen Hals hing das Ritterkreuz. Er hatte blonde Haare, ein jungenhaftes, offenes, fröhliches Gesicht, große blaue Augen und strömte trotz seiner Jugend Ruhe und vor allem Mut aus.

«Wieviel Wagen?«fragte er kurz.

«Neun.«, sagte Heydicke gepreßt. Adamsverdruß war zerrissen worden. Eine Gruppe um Johannes Lusken wollte in Braunsberg abwarten. Juliane Brakau hatte eine Lungenentzündung und glühte vor Fieber. Vierzehn Wagen mit meist alten Leuten blieben zurück. Sie gaben auf. Es war die schwärzeste Stunde, und Pfarrer Heydicke segnete die Alten, die bereit waren, auf der Erde ihrer Heimat zu sterben. Eine zweite Gruppe wollte zurück nach Schill gehen, sich dort auf die Reichsautobahn setzen und nach Elbing wandern. Von Elbing, so hieß es, fuhren noch Züge ins Reich.»Du mit deinem Meer!«schrie man Paskuleit an.»Das war ein Fehler, bei dem wir jetzt alle draufgehen! Elbing, das war die Richtung! Leck uns am Arsch!«

Adamsverdruß brach auseinander. Was Jahrhunderte zusammengefügt hatten, zerplatzte in Angst, Entsetzen, Kopflosigkeit und Verzweiflung. So blieben nur noch neun Wagen übrig: Die Familie Kurowski mit Paskuleit, Pfarrer Heydicke, Franz Busko, Felix Baum, drei unmittelbare Nachbarn Paskuleits und eine junge Frau mit einem Säugling, die erst seit acht Monaten in Adamsverdruß gewohnt hatte und die Frau des Gutsherren Rambsen war. Gottfried Rambsen war irgendwo an der Front als Leutnant. Seine junge Frau kannte man kaum… nun war sie der neunte Wagen. Ein leichter Jagdwagen mit nur einem Pferd davor. Ein Trakehnerhengst. Er hieß >Goldener Sommer<.»Er ist mein einziges Kapital — «sagte Julia Rambsen zu Paskuleit.»Mit ihm kann man überall von neuem anfangen.«

Am Abend ging Opa Jochen noch einmal zu dem jungen Oberleutnant mit dem Ritterkreuz.»Warum sind Sie nicht an der Front?«fragte er direkt.

Der junge Offizier lächelte schwach.»Hier kann ich vielleicht vierhundert Frauen und Kinder retten. da drüben«- er nickte ins Weite —»nichts mehr. Was ist mehr wert?«

«Ich bleibe an deiner Seite, Jungchen«, sagte Opa Jochen fest.»Das Ding da um den Hals kannste dir jetzt zum zweitenmal verdienen.«