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WOLFGANG HOHLBEIN

AZRAEL:

DIE WIEDERKEHR

Roman

Originalausgabe

»Scan by redpoint7«

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

HEYNE ALLGEMEINE REIHE

Besuchen Sie uns im Internet: http://www.heyne.de

4. Auflage

Redaktion: Dieter Winkler

Copyright © 1998 by Wolfgang Hohlbein

Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Printed in Germany 2000

Umschlagillustration: Kazuhiko Sano

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin

1

Der erste Hieb war ins Leere gegangen, aber der nächste hatte seine linke Schulter getroffen und bis auf den Knochen hinab zerfleischt.

Wenigstens nahm er das an. Er hatte bisher nicht den Mut aufgebracht, einen Blick auf seine Schulter zu werfen, um sich von der Schwere seiner Verletzung zu überzeugen, aber sein linker Arm hing so nutzlos wie ein Stück totes Holz an seiner Seite, und seine Jacke war naß und schwer von Blut. Obwohl der Regen immer heftiger strömte und er längst bis auf die Haut durchnäßt war, spürte er, wie ein zähflüssiges, warmes Rinnsal an seinem Arm hinablief und sich über der Handwurzel teilte, um an den Fingern entlang zu Boden zu tropfen. Hätte es nicht geregnet, hätte er eine gewundene Spur aus unterschiedlich großen Tropfen und Pfützen hinterlassen, die die Stationen seiner Flucht markierten. Er wußte nicht einmal mehr genau, wie viele. Sein unheimlicher Verfolger hatte ihn drei- oder auch viermal gestellt, aber es war ihm jedesmal gelungen, ihn noch einmal abzuschütteln.

Die Frage war nur: Wie oft noch? Trotz der Schmerzen, der atemabschnürenden Furcht und der immer stärker werdenden Erschöpfung war er noch nicht so sehr in Panik, daß sein logisches Denken vollends ausgeschaltet gewesen wäre. Der Angreifer hatte ihn mindestens einmal ganz bewußt entkommen lassen; wahrscheinlich sogar jedes Mal. Er spielte mit ihm.

Und Rosen hatte nicht vor, dieses Spiel zu verlieren. Seine Chancen standen nicht einmal schlecht. Sicher, er war verletzt, er wußte nicht, mit wem er es zu tun hatte, und er befand sich in einer Gegend der Stadt, in der er sich überhaupt nicht auskannte. Aber er war zäh. Die Verletzung war zwar schmerzhaft, aber wahrscheinlich nicht tödlich, und er hatte noch nicht einmal angefangen, sich ernsthaft zur Wehr zu setzen.

Der Regen ließ für einen Moment nach; nicht vollkommen, und bestimmt auch nicht auf Dauer. Es war nur ein kurzes Atemholen, dem ein vermutlich noch intensiverer Guß folgen würde - aber für Rosen stellte diese Ruhepause eine neue, noch größere Gefahr dar. So quälend der Eisregen sein mochte, war er bisher doch sein einziger Verbündeter gewesen. Das seidige, leise Rauschen hatte das Geräusch seiner Schritte ebenso zuverlässig verschluckt wie die silbernen Schleier seine Gestalt. Nichts, was weiter als sechs oder sieben Meter entfernt war, war in den niederstürzenden Wassermassen noch zu erkennen. So wenig, wie er seinen Verfolger sehen konnte, konnte dieser ihn im Auge behalten. Und die wenigen Straßenlaternen, die in unregelmäßigen Abständen brannten, machten es eher schlimmer: Statt die Dunkelheit zu vertreiben, verwandelten sie den Regen vollends in einen dicht gewobenen Vorhang aus Quecksilberfäden. Wenn der Regen jetzt nachließ - oder gar ganz aufhörte -, dann war er seinem Verfolger wie auf dem Präsentierteller ausgeliefert.

Rosen nahm all seine Kraft zusammen, um abermals seine Schritte zu beschleunigen. Er wußte, daß es jetzt auf jede Sekunde ankam. Und auch darauf, seine Taktik zu ändern: Er rannte jetzt nicht mehr nur stur geradeaus, sondern in einem geschwungenen Zickzack, mit dem er den Straßenlaternen und ihrem verräterischen Licht auswich, das plötzlich zu einer Gefahr zu werden drohte. Sich auf sein Glück zu verlassen, bedeutete nicht, seinen Verstand auszuschalten oder die grundlegendsten Vorsichtsmaßnahmen zu vergessen.

Seine Schritte erzeugten jetzt, da das Geräusch des Regens nicht mehr jeden anderen Laut übertönte, ein hörbares Platschen in den flachen Pfützen, die die Straße wie Millionen asymmetrischer Spiegelscherben bedeckten. Das Wasser war eisig und drang bei jedem Schritt schmerzhaft in seine Schuhe ein. Für zwei, drei Augenblicke versuchte er, diesen Pfützen auszuweichen, gab es aber praktisch sofort wieder auf; es war lächerlich, sich wie ein Kind zu bewegen, das Hinkelkästchen spielte - und außerdem nicht schnell genug. Der Regen ließ weiter nach. Es war jetzt nicht mehr annähernd so dunkel wie noch vor Augenblicken Wenn sein Verfolger ihn überhaupt jemals aus den Augen verloren hatte, dann würde er ihn in spätestens fünf bis zehn Sekunden wieder sehen, wenn er auf dieser Straße blieb.

Wenn er wenigstens gewußt hätte, wo er war! Die Situation kam Rosen mit einem Male vollkommen grotesk vor, wenn auch kein bißchen komisch: Er befand sich in einer der größten Städte des Landes, einer Metropole mit mehreren Millionen Einwohnern, aber die Straßen, über die er sich bewegte, waren nicht nur menschenleer, sondern schienen niemals Leben beherbergt zu haben. Abgesehen von den wenigen noch funktionierenden Straßenlaternen, die aussahen, als stammten sie noch aus dem vergangenen Jahrhundert, brannte nirgendwo Licht. Vor ihm erstreckte sich eine scheinbar endlose, aber auch real sicher noch zwei Kilometer lange Straße, die von heruntergekommenen braunen und grauen Backsteingebäuden flankiert wurde. Es gab sehr viele Mauern ohne Fenster, und sehr wenige Fenster, in denen noch Glas war. Offensichtlich befand er sich in einem aufgegebenen Industriegebiet; einem jener Viertel der Stadt, in denen das Versprechen auf eine neue Freiheit und den damit verbundenen Wohlstand nicht eingelöst worden war.

Hinter ihm polterte etwas. Rosen drehte im Laufen den Kopf und stieß einen leisen, abgehackten Schrei aus, als die plötzliche Bewegung einen rasenden Schmerz durch seine Schulter jagte. Für einen Moment glaubte er eine Bewegung zu erkennen: Ein mächtiges, gleitendes Fließen und Wogen inmitten der Dunkelheit, als verberge sich etwas darin, das noch dunkler war als die vollkommene Schwärze, die die Straße hinter ihm erfüllte.

Im ersten Moment schrieb er diesen Eindruck dem Zustand zu, in dem er sich befand: Er war vollkommen erschöpft, halb verrückt vor Angst und fror wie noch nie zuvor im Leben. Und er hatte eine Menge Blut verloren. Vielleicht begann man zu halluzinieren, wenn man genug Blut verloren hatte.

Dann begriff er, daß es keine Halluzination war. Hinter ihm herrschte tatsächlich vollkommene Dunkelheit.

Und das war unmöglich. Er war noch vor Sekunden dem Licht der Laternen ausgewichen.

Noch während er diesen Gedanken dachte, erlosch eine weitere Laterne hinter ihm. Die Dunkelheit folgte ihm. Vielleicht war sie sein eigentlicher Feind. Nicht das, was sich darin verbarg.

Mit nach hinten gedrehtem Kopf zu rennen, ist nicht besonders vorteilhaft. Rosen kam aus dem Tritt, versuchte mit einer ungeschickt hastigen Bewegung sein Gleichgewicht wiederzufinden und machte es dadurch nur noch schlimmer. Er fiel der Länge nach hin und beging einen zweiten, größeren Fehler, indem er beide Arme nach vorne riß, um dem erwarteten Aufprall die schlimmste Wucht zu nehmen. Seine verletzte Schulter protestierte mit einem wütenden Schmerz gegen die plötzliche Bewegung.

Im nächsten Sekundenbruchteil verlor er fast das Bewußtsein. Der Schmerz war unvorstellbar: Er explodierte zuerst in seinen Handgelenken, raste in schnellen, sich oszillierend aufbauenden Wellen durch seine Arme, riß seine Ellbogengelenke in Stücke und verwandelte seine linke Schulter in einen durchgehenden Nuklearreaktor. Es war so schlimm, daß er nicht einmal mehr schreien konnte. Mehr durch ein Wunder als durch die Kraft seines Willens gelang es ihm, bei Bewußtsein zu bleiben. Er konnte immer noch nicht schreien, aber erst jetzt registrierte er, daß er auch nicht mehr atmen konnte. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze, und sein Mund und seine Nase hatten sich mit brackigem, nach Benzin schmeckendem Wasser gefüllt.