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»Aber wie...?«

»Manche von euch sind in der Lage, uns zu rufen«, unterbrach ihn der Engel, bevor er seine Frage zu Ende formulieren konnte. »Manche kraft der Reinheit ihres Geistes - wenn du diesen hochtrabenden Ausdruck entschuldigst, aber mir fällt im Moment kein passender ein - manche auf ... anderem Wege.«

Einige Sekunden vergingen, bis Bremer begriff, was das Geschöpf gerade gesagt hatte. »Dann ... dann bist du ein wirklicher Engel?« keuchte er.

»In dem Sinne, in dem ihr das Wort benutzt ... ja«, antwortete die Lichtgestalt. »Aber es ist viel komplizierter, als du denkst. Und zugleich einfacher.«

»Wer bist du?« fragte Bremer. Er fühlte sich wie erschlagen.

»Mein Name ist Azrael«, antwortete der Engel. »Aber das weißt du doch.«

»Azrael?« krächzte Bremer. Ein noch schwacher, aber durch und durch grauenhafter Verdacht begann in ihm aufzukeimen, aber der Gedanke war so furchterregend, daß er ihn hastig erstickte, bevor er vollends Gestalt annehmen konnte. »Der ... der Todesengel?«

»Das ist meine Aufgabe«, bestätigte die Lichtgestalt. »Wir sind Gottes Krieger. Das waren wir immer. Nur habt ihr irgendwann beschlossen, das zu vergessen.«

»Aber ... aber ich dachte...«, stammelte Bremer. Er drehte sich hilflos herum und deutete auf den spinnenköpfigen Dämon. Der geflügelte Todesbringer war neben seinem Opfer auf die Knie gesunken und wimmerte leise. »Ich dachte, daß er es ist!«

»Auch er ist Azrael«, sagte der Engel. »Ich bin immer das, was ihr in mir sehen wollt.« Er deutete auf den Dämon. »Für dich bin ich er. Für einen anderen bin ich das, was du siehst.«

»Er ist mein Abbild?« Bremer starrte den Dämon an. Seinen höllischen Schutzengel. »Er?!«

Azrael nickte. Er/sie/es schwieg. Ein Ausdruck sanfter Trauer erschien in den unergründlichen Augen des Wesens.

Und Bremer stieß einen lautlosen, gedanklichen Schrei aus. Es war zu viel, um es zu ertragen. Zu viel. Zu viel!

»Er war immer dein Geschöpf«, fuhr Azrael erbarmungslos fort. »Du hast dich entschieden, ihn zu rufen, und er hat getan, was du von ihm verlangt hast. Dein Wille geschehe - Mensch.«

»Dann habe ich sie getötet«, murmelte Bremer. »Rosen. Strelowsky. Halbach. Lachmann.«

»Und all die anderen«, bestätigte Azrael. Das Lächeln in den Augen des Lichtgeschöpfes war erloschen und hatte einer Härte Platz gemacht, die ebenso gewaltig und grenzenlos war wie die Güte, die er noch vor Sekunden darin gelesen hatte. »Es ist so, wie Vater Thomas gesagt hat: Das ist es, was geschieht, wenn Menschen die Macht bekommen, alles zu tun, was sie wollen. Und am Ende hast du auch ihn getötet.«

»Aber ich wollte das nicht!« wimmerte Bremer. »Ich wollte nicht, daß all diese Menschen sterben!«

»Doch«, antwortete Azrael. »Tief in dir drinnen wolltest du es. Es war dein Wille. Wir waren nur die Vollstrecker.«

»Aber ... aber wenn ich dieses Ding erschaffen habe«, stöhnte Bremer; er starrte den Dämon an, und das Wesen erwiderte seinen Blick aus seinen kalten, grundlosen Augen, »wer hat dann dich gerufen?«

Azrael lächelte wieder. »Für den einen ist der Tod ein Werkzeug«, sagte er/sie/es. »Für den anderen eine lang ersehnte Erlösung. Ich bin nicht nur eine Waffe, weißt du?«

Bremer starrte die Isolierkammer und den jetzt offenstehenden Sarkophag darin an. Er wußte, daß der Engel die Wahrheit sprach, ganz einfach, weil das Wesen ja gar nicht imstande war, zu lügen, und doch kamen ihm seine Worte wie der Gipfel der Ironie vor. Er, ein völlig normaler, allenfalls ein wenig selbstgefälliger, aber im Grunde seines Herzens trotzdem gerechter Mann, hatte dieses Ungeheuer geschaffen, ein ... Ding, von dessen Klauen noch immer das Blut seines letzten Opfers tropfte, und das zum Töten und nur zum Töten und zu nichts anderem gut war, während diese strahlende Lichtgestalt hinter ihm dem Geist eines Menschen entsprungen war, der endlose Ewigkeiten des Martyriums hinter sich hatte. Der nichts anderes mehr wollte, als endlich zu sterben.

»Dann ist es endlich, endlich vorbei«, sagte er leise.

Azrael schüttelte den Kopf. »Es ist nie vorbei.«

Bremer verstand im ersten Moment nicht einmal wirklich, was der Engel meinte. Oder doch. Vielleicht wollte er es nur nicht verstehen. Dann aber blickte er wieder seinen eigenen, teuflischen Cherubim an. Das Geschöpf richtete sich langsam, zitternd und noch unsicher auf. Seine furchtbaren Wunden waren verheilt, aber seine Kraft war noch nicht zur Gänze zurückgekehrt. Der Anblick machte Bremer auf subtile Weise klar, daß auch diese Geschöpfe sterblich waren, auf eine bestimmte Weise. Ihre Kraft war unvorstellbar, aber endlich.

Auch Braun - oder in was auch immer er sich zu verwandeln begonnen hatte - begann sich zu erheben. Sein Fleisch begann dort, wo es von den Klauen und Kiefern des Dämons aufgerissen worden war, zu brodeln und zu zerfließen, wie kunstvoll geformtes Wachs, das zu lange in der Sonne gelegen hatte. Doch nachdem die Wunden sich geschlossen hatten, sah er nicht mehr aus wie vorher. Als er sich wieder aufrichtete, schien er größer geworden zu sein, und zugleich muskulöser, wirkte aber zugleich auch mißgestaltet und verzerrt, als hätte jemand alle Teile seines Körpers genommen und nicht richtig wieder zusammengesetzt und zusätzlich noch etwas hinzugefügt. Der Azrael-Wirkstoff tat auch bei ihm seinen Dienst, genau wie bei Bremer und Haymar. Es waren niemals nur Angelas heilende Hände gewesen, die ihm geholfen hatten, all das zu überleben, was man seinem Körper in den letzten vierundzwanzig Stunden angetan hatte, so wenig, wie es niemals nur die Maschinen gewesen waren, die den Mann in dem offenstehenden schwarzen Sarkophag zwangen, weiter am Leben zu bleiben.

Bremer blickte die Kreatur an, in die Braun sich immer schneller zu verwandeln begann, und fragte sich, ob es überhaupt noch möglich war, sie zu vernichten. Haymar hatte ihm ein furchtbares Geschenk hinterlassen. Braun hatte die Unsterblichkeit bekommen, nach der er sich gesehnt hatte, aber um den Preis seiner Menschlichkeit. Er wagte nicht einmal, sich vorzustellen, welche Art von Ungeheuer er rufen würde, sollten sich seine Fähigkeiten im gleichen Maße entwickeln wie die Haymars und seine eigenen.

»Könnt ihr ... es besiegen?« fragte er. »Was immer er rufen wird?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete der Engel. Seine gewaltigen Flügel raschelten leise. »Es gibt Feinde, die auch wir fürchten.« Er sah Bremer an. »Und du? Kannst du ihn besiegen?« Er deutete auf den Dämon. Das geflügelte Ungeheuer und das, was einmal Braun gewesen war, begannen sich zu umkreisen. Diesmal war der Ausgang des Kampfes vollkommen ungewiß, denn nun waren sich beide Gegner ebenbürtig.

»Wenn du mir hilfst«, murmelte er.

»Das steht nicht in meiner Macht«, antwortete Azrael. Er seufzte. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine unerträglich edlen Züge und gaben ihm für einen Moment wieder etwas mehr von einem Menschen. Nicht viel.

Braun und der geflügelte Dämon prallten brüllend aufeinander und tauschten die ersten Hiebe aus.

»Es ist wohl so, wie ihr Menschen sagt«, seufzte Azrael. »Wenn du willst, daß etwas getan werden soll, dann tu es selbst. Entschuldige mich bitte - ich muß meinem Kollegen unter die Arme greifen.« Lautlos und mit schlagenden Flügeln stürzte sich der Todesengel in die Schlacht.

Und während Gottes Krieger und der Diener des Höllenfürsten Seite an Seite antraten, um gegen einen Feind zu kämpfen, den menschlicher Größenwahn und Ignoranz erschaffen hatten, drehte sich Bremer herum, trat an den Computer und lächelte traurig, als sein Blick auf die rotleuchtende Digitalanzeige auf dem Bildschirm fiel. Azrael hatte gesagt, daß er ihm nicht helfen könnte, aber das stimmte nicht.