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Sowohl die Kette als auch das Schloß hatten dem Anprall standgehalten, aber die schiere Wucht des Stoßes hatte das morsche Tor halb aus den Angeln gerissen. Der Spalt zwischen den beiden Hälften war deutlich breiter geworden. Vielleicht breit genug, um sich hindurchzuquetschen. Das Ergebnis entsprach ganz seinen Erwartungen. Seine Schulter verwandelte sich in reinen Schmerz. Das rostige Metall zerriß seine Kleidung und fügte ihm eine Anzahl neuer, tiefer Schnitt- und Schürfwunden zu, und sein Arm und die linke Hüfte weigerten sich jetzt einfach, seinen Befehlen weiter zu gehorchen. Verzweifelt griff er mit der rechten Hand zu, stemmte den Fuß gegen den Boden und schob und zerrte zugleich mit aller Kraft. Rostiges Eisen biß wie mit glühenden Zähnen in seine Schulter. Er brüllte vor Schmerz. Er konnte kaum noch sehen. Alles war rot und schwarz, und der Geschmack in seinem Mund war eine Mischung aus Erbrochenem und Blut. Trotzdem kämpfte er mit der absoluten Kraft schierer Todesangst weiter.

Mit einem Ruck kam er frei. Fetzen seiner Kleidung blieben an den beiden Torhälften zurück, und diesmal versuchte er erst gar nicht, seinen Sturz aufzufangen, drehte sich aber instinktiv auf die rechte Seite, so daß er zwar erneut gequält aufschrie, wenigstens aber nicht wieder an den Rand einer Bewußtlosigkeit schlitterte. Wimmernd stemmte er sich auf eine Hand und beide Knie hoch, schrie abermals, als sich eine Glasscherbe tief in seine Handfläche bohrte und kroch ein paar Schritte vom Tor fort. Keine Sekunde zu früh.

Das Licht auf der anderen Seite des Tores erlosch. Etwas traf die beiden Flügel aus verrostetem Wellblech und schleuderte sie davon wie zerfetztes Papier, und etwas Riesiges, Schwarzes raste durch die gewaltsam geschaffene Öffnung herein, streifte Rosen beinahe flüchtig und schmetterte ihn erneut zu Boden. Er hatte einen blitzartigen Eindruck von gigantischen Schwingen aus geronnener Dunkelheit und Klauen aus rasiermesserscharfem Stahl. Dann knallte er mit dem Hinterkopf so wuchtig gegen den Boden, daß er nun tatsächlich das Bewußtsein verlor. Wenn auch wahrscheinlich nur für eine oder zwei Sekunden.

Als er die Augen wieder öffnete, stand der Gigant über ihm. Es war kein Mensch.

Es war zu groß. Seine Schultern waren zu breit. Sie hörten nicht dort auf, wo sie es sollten. Sie wuchsen weiter zu einem Paar gigantischer, schwarzer Flügel aus gehämmertem Stahl. Seine Hände waren grauenerregende gebogene Klauen mit zu vielen Fingern. Und wo das Gesicht sein sollte, war nur wogende Schwärze. Es war das Ding, das er in der Pfütze gesehen hatte.

Kein Er. Es. Rosen wimmerte vor Angst und kroch rücklings von der furchtbaren Erscheinung weg.

Zu langsam. Der schwarze Koloß folgte ihm, lautlos, ein Stück der Nacht, das zu gräßlichem Leben erwacht war. Eine der furchtbaren Krallen hob sich.

Zu leicht, wisperte eine lautlose Stimme hinter seiner Stirn. Nicht genug.

Die Klaue senkte sich wieder. Der schwarze Engel zog sich auf die gleiche, lautlose Weise wieder zurück, auf die er herangekommen war.

Er schlug erst zu, als sich Rosen in die Höhe stemmte und davonlaufen wollte.

Seine Kralle traf Rosens Rücken und riß ihn von den Schulterblättern bis zur Hüfte hinab auf.

Rosen kreischte in schierer Agonie, torkelte hilflos zwei Schritte nach vorne und prallte gegen etwas Hartes, etwas mit Spitzen und scharfen, reißenden Kanten. Er fiel, sprang wieder hoch und taumelte weiter. Sein Rücken war eine einzige, blutende Wunde. Er konnte die Quellen der einzelnen Schmerzen nicht mehr lokalisieren. Er hatte auch nicht mehr die Kraft zu schreien, sondern brachte nur noch eine Mischung aus Wimmern und Schluchzen zustande, während er haltlos weitertaumelte. Der schwarze Engel war hinter ihm, riesig, kalt, tödlich. Er konnte regelrecht spüren, wie sich die mörderischen Klauen zu einem weiteren, vielleicht dem letzten Hieb hoben.

Nicht genug. Der Hieb hätte seinen Schädel zertrümmern können, aber er streifte seinen Hinterkopf nur. Trotzdem riß er Rosens Skalp bis auf den Knochen auf, zerfetzte seinen Nacken und ritzte die Halsarterie an der rechten Seite. Nicht tief genug, um ihn auf der Stelle zu töten, zu leicht, aber weit genug, um einen neuen Ausgang zu erschaffen, aus dem das Leben warm und klebrig aus ihm herausströmte.

Er fiel nicht, sondern taumelte blind weiter. Trotz allem registrierte er, daß er sich auf einer Art Schrottplatz zu befinden schien, vielleicht auch nur auf einem mit Unrat und Schrott übersäten Fabrikhof. Auf dem Boden schimmerten Glasscherben und scharfkantiges Metall. Links von ihm war etwas Großes, Glänzendes, vielleicht eine Wand aus Glas, vielleicht auch ein Block aus massivem Metall. Der Todesengel war noch immer hinter ihm. Gigantische Schwingen wie geschliffener Stahl durchschnitten die Luft zu leicht und berührten fast sanft seine Oberschenkel zu leicht und öffneten sein Fleisch zu einem weiteren Paar blutiger Lippen.

Rosen schrie. In seinen Beinen war jetzt keine Kraft mehr. Nirgends in seinem Körper war noch Platz für irgendein anderes Gefühl als Pein oder Angst.

Er fiel, prallte gegen etwas Hartes und zugleich Nachgiebiges und krallte sich instinktiv fest. Dünne, rote Linien aus Schmerz schnitten in seine Hände zu leicht, und nur ein kleiner Teil von ihm war noch klar genug und zu logischem Denken fähig. Dieser winzige Teil jedoch empfand nichts anderes als Erstaunen. Er hätte nicht mehr am Leben sein dürfen. Jede einzelne der grauenhaften Verletzungen, die ihm der schwarze Titan zugefügt hatte, hätte ihn töten müssen. Und wenn schon nicht das, so doch der Blutverlust. Der Schrottplatz schwamm in einem Meer aus dampfendem Rot. Trotzdem lebte er noch, vielleicht nur, weil er in diesem Moment dem Tod so nahe war wie niemals zuvor, und weil er plötzlich mit unerschütterlicher Sicherheit wußte, was auf der anderen Seite auf ihn wartete. Der Tod war keine Erlösung. Er war nur das Tor in eine andere, unvorstellbare Welt, ein Universum voller endloser Qual und immerwährender Furcht.

Zu leicht. Der nächste Hieb traf ihn nicht mit der reißenden Kante, sondern mit der ganzen Breite der eisernen Schwinge. Rosen wurde mit furchtbarer Gewalt in die Höhe und nach vorne geschleudert, spürte, wie mindestens sechs oder sieben Rückenwirbel splitterten und seine Hüfte brach und fühlte zugleich ein geometrisches Muster aus neuem, blendendweißem Schmerz auf Gesicht und Händen. Er schrie, schluckte sein eigenes Blut und erstickte beinahe daran. Trotzdem begriff er, daß er gegen einen Maschendrahtzaun geschleudert worden war, einen Zaun aus glühendem, rasiermesserscharfem Draht, der sein Gesicht und seine Hände zerfetzte und dem Wort unerträglich eine neue, nie gekannte Dimension verlieh.

Seine Muskeln versagten ihm endgültig den Dienst. Hilflos sackte er am Zaun entlang zu Boden, klammerte sich mit blutigen, verheerten Fingern in den reißenden Stahl und war nicht mehr in der Lage, seinen Griff wieder zu lösen. Sein Körper wurde mit einem so brutalen Ruck herumgerissen, daß er sich die Schulter auskugelte, aber er hatte nicht mehr die Kraft für mehr als ein gequältes Wimmern. Es spielte zu leicht keine Rolle mehr. Der Dunkle Engel stand über ihm. Seine eisernen Klauen glitzerten.

Zu leicht. Diesmal zielte er auf Rosens Augen.

2

Es war noch immer das Haus der Pein. Der Mann, der diesen Namen ersonnen hatte, lebte schon lange nicht mehr, genau wie die meisten anderen, die in diesen Mauern gearbeitet und gelitten hatten, und obwohl er diese Bezeichnung nur für sich allein gewählt und mit keinem anderen Menschen darüber geredet hatte, war dieser Name irgendwie geblieben; als hätte er in den uralten Mauern Substanz gewonnen, die sich hinter weißer Tünche und modernem Kunststoff verbargen. Vielleicht war es aber auch genau anders herum: Vielleicht war dieses ganze Gebäude nur entstanden, um seinem Namen einen Körper zu verleihen.