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Für Bremer jedenfalls war es so. Er verknüpfte mit diesem Gebäude - vor allem mit dem, was darin geschehen war - nichts anderes als unangenehme Erinnerungen. Er hatte sich, lange nachdem alles vorbei war, über dieses Haus erkundigt und herausgefunden, daß seine Geschichte über Jahrhunderte hinweg tatsächlich eine Geschichte des Leides und der Pein gewesen war. Die Mauern des ehemaligen Klosters hatten mehr Schreie der Verzweiflung gehört und Tränen des Kummers gesehen als jedes andere von Menschenhand geschaffene Gebäude dieser Stadt, und in seinen Katakomben und Gewölben war mehr Blut vergossen worden als auf so manchem Schlachtfeld. Nichts von alledem war in böser Absicht geschehen. Die Menschen, die in diesem Gebäude gelebt und gewirkt hatten, hatten stets in bestem Willen gehandelt, und doch schien es, als ob dieser Ort alles verdrehte, Licht zu Dunkelheit und Gutes zu Schlechtem werden ließ. Es war ein böser Ort.

Und Bremer war hier geboren. Zum zweiten Mal, um genau zu sein. Der Tag seiner ersten Geburt lag mittlerweile gute fünfzig Jahre zurück, aber sein zweites, neues Leben hatte hier begonnen, nicht nur in diesem Gebäude, sondern tatsächlich in dem Zimmer, in dem er sich jetzt befand, möglicherweise sogar auf der lederbezogenen Liege, auf der er lag. Er hatte nie danach gefragt. Als sie ihn hereingebracht hatten, war er tot gewesen. Als er die Klinik drei Monate später wieder verließ, da...

»Sie können sich jetzt wieder anziehen, Herr Bremer.« Dr. Mecklenburgs Stimme riß Bremer in die beruhigende Wirklichkeit des Untersuchungszimmers zurück. Er brauchte eine halbe Sekunde, um zu begreifen, daß die Worte ihm galten, und die zweite Hälfte, um ihren Sinn zu erfassen und darauf zu reagieren. Dann hob er - entschieden zu hastig - die Hände, fummelte die vier oberen Knöpfe seines Hemdes zu und stopfte den Rest unordentlich in die Hose, während er bereits den Gürtel schloß und von der Kante der Ledercouch glitt; alles in einer einzigen, kompliziert ineinander übergehenden Bewegung.

Mecklenburg schüttelte den Kopf. »Zirkusreif«, sagte er spöttisch. »Irre ich mich, oder haben Sie es ziemlich eilig von hier zu verschwinden?«

Und ob, dachte Bremer. Ich hätte gar nicht erst kommen sollen. Laut sagte er: »Nein. Ich hasse es nur, Zeit zu verschwenden.«

»Ein Besuch bei einem Arzt ist niemals Zeitverschwendung«, belehrte ihn Mecklenburg - allerdings nur, um praktisch in der gleichen Sekunde schon den Kopf zu schütteln und seine eigene Behauptung zu relativieren: »Obwohl ich gestehen muß, daß das in Ihrem Fall vielleicht nicht ganz zutrifft. Für einen Mann Ihres Alters sind Sie in einer geradezu unverschämt guten Verfassung. Hat man Ihnen das eigentlich schon einmal gesagt?«

»Mehrmals.« Bremer griff nach seiner Jacke. »Es gibt da einen gewissen Arzt, der es mir alle drei Monate wieder versichert.« Er seufzte. »Im Ernst: Wie lange wollen wir dieses Theater noch treiben? Wir verschwenden nicht nur meine Zeit, sondern auch Ihre. Haben Sie nichts Besseres zu tun, als einen vollkommen gesunden Mann zu untersuchen?«

»Kein Arzt auf der Welt hat etwas Besseres zu tun, als einen Urenkel von Lazarus zu untersuchen und sein Geheimnis zu ergründen«, antwortete Mecklenburg. »Ich bekomme den Nobelpreis, wenn ich erklären kann, wieso Sie noch leben. Glauben Sie etwa, diese Chance lasse ich mir entgehen?« Er grinste, lehnte sich nachlässig gegen die Schreibtischkante und sah mit beinahe wissenschaftlichem Interesse zu, wie Bremer seinen üblichen Kampf mit dem Krawattenknoten aufnahm und wie gewohnt verlor.

»Was machen die Alpträume?« fragte er nach einer Weile. Bremer zog eine Grimasse und riß den Schlips mit einem Ruck herunter, um ihn in die Jackentasche zu stopfen, verlor endgültig die Geduld und warf ihn auf die Liege hinter sich.

»Danke der Nachfrage«, sagte er. »Sie entwickeln sich prächtig.«

Mecklenburg grinste weiter, aber das spöttische Funkeln in seinen Augen war nicht mehr da.

»Sie sollten vielleicht doch mit meinem Kollegen reden«, sagte er. »Ich kann ihn anrufen. Es macht keine Mühe. Ich vereinbare gerne einen Termin für Sie.«

»Wenn ich einen Gehirnklempner brauche, sage ich Ihnen Bescheid«, antwortete Bremer. Die Worte klangen sogar in seinen eigenen Ohren schärfer, als sie es sollten. Einen Sekundenbruchteil lang überlegte er, sie mit einer entsprechenden Bemerkung ein wenig zu mildern, tat es aber dann doch nicht. Sie hatten dieses Gespräch schon so oft geführt, daß selbst Mecklenburg mit seiner berufsmäßigen Sturheit eigentlich begriffen haben sollte, daß er nicht mit einem Psychologen reden wollte. Er hatte Alpträume - und?

Nach dem, was er durchgemacht hatte, hatte er jedes verdammte Recht dazu!

Mecklenburg sah ihn eine Sekunde lang enttäuscht an, dann zuckte er mit den Schultern und schwang sich mit einer übertrieben heftigen Bewegung von der Schreibtischkante.

»Ganz wie Sie meinen«, sagte er. »Sollten Sie es sich anders überlegen, meine Nummer haben Sie ja. Wir sehen uns dann in drei Monaten.«

Soviel zu der Frage, wie lange diese Zeitverschwendung noch andauern sollte. Bremer sparte sich die Energie, noch einmal darauf einzugehen, sondern verabschiedete sich mit einem knappen Nicken von Mecklenburg und verließ den Untersuchungsraum. Nach zwei Schritten blieb er wieder stehen, versenkte die rechte Hand in die Tasche und machte ein ärgerliches Gesicht, noch bevor er sie leer wieder herauszog. Er hatte seine Krawatte auf der Liege vergessen. Nicht, daß ihm viel daran lag. Bremer haßte Krawatten. Aber sie gehörte nun einmal dazu, und das Ding hatte fast hundert Mark gekostet; für das Gehalt eines kleinen Polizeibeamten entschieden zu viel, um mit reinem Achselzucken darauf zu verzichten. Resignierend drehte er sich um und ging noch einmal zurück.

Er trat ein, ohne anzuklopfen. Mecklenburg hatte seinen Platz auf der Tischkante aufgegeben und saß hinter seinem Schreibtisch und telefonierte. Als Bremer eintrat, ließ er den Hörer erschrocken sinken und deckte die Muschel automatisch mit der linken Hand ab. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war fast entsetzt.

Bremer zuckte die Achseln, kniff die Lippen zur Karikatur eines entschuldigenden Lächelns zusammen und deutete auf den zusammengeknüllten Schlips, der auf der Couch lag. In der ersten Sekunde begriff Mecklenburg sichtlich gar nicht, was er meinte, dann nickte er auffordernd, und Bremer durchquerte mit schnellen Schritten das Zimmer, raffte die Krawatte an sich und stopfte sie unordentlich in die Tasche. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich wieder um und ging. Im Vorbeigehen streifte sein Blick die Akte, die vor dem Arzt auf dem Tisch lag. Sie war zugeklappt, aber Bremer konnte seinen eigenen Namen deutlich auf dem Deckblatt lesen. Nein, Mecklenburg hatte ganz eindeutig nicht vor, ihn in absehbarer Zeit aus seiner Patientenkartei zu streichen.

Wie üblich, durchquerte er den kurzen Gang und die dahinter liegende große Halle mit so schnellen Schritten, daß er gerannt wäre, hätte er sein Tempo auch nur noch um eine Winzigkeit gesteigert. Die kühle Sachlichkeit des Behandlungszimmers hatte ihm für einen kurzen Moment Schutz geboten, einen Halt, an den er sich klammern konnte, um nicht wieder in den bodenlosen Abgrund zu stürzen, der sich hinter der Fassade aus scheinbarer Normalität und dezentem Luxus verbarg, mit dem die Privatklinik ihre Besucher empfing. Aber dieser Schutz würde nicht ewig halten. Nicht einmal besonders lange. Obwohl er wahrscheinlich besser als jeder andere wußte, daß von diesem Gebäude keine Gefahr mehr ausging, waren die Gespenster der Vergangenheit hier noch höchst lebendig.