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Und das vielleicht im wahrsten Sinne des Wortes. Hinter dem an einen Hoteltresen erinnernden Empfang hielten sich im Moment drei junge Frauen auf. Wie der größte Teil des Personals hier trugen sie keine Kittel oder irgendeine andere Art von Krankenhausuniform, sondern schmucke Kostüme, die entweder eine Menge über ihre Gehälter verrieten, oder vermuten ließen, daß die Klinik ihrem Personal ein großzügiges Kleidergeld zahlte, und selbstverständlich waren alle drei jung und äußerst attraktiv; Bremer war sicher, daß das Personal hier mindestens ebenso nach seinem Aussehen wie nach seinen fachlichen Qualifikationen ausgesucht wurde.

Eine der drei jungen Frauen kannte er. Sie hatte sich das Haar gefärbt und zu einem modischen Kurzhaarschnitt frisieren lassen, und sie war ein wenig älter geworden - nein, nicht älter: erwachsener. Bremer erkannte sie trotzdem sofort und ohne den leisesten Zweifel wieder. Es war nicht nur eine zufällige Ähnlichkeit. Die junge Frau...

...hob in diesem Moment den Kopf und sah so direkt in seine Richtung, als hätte sie seinen Blick gespürt oder seine Gedanken gelesen, und für den zeitlosen Augenblick eines Gedankens sah sie ihm direkt in die Augen. Aus Ähnlichkeit wurde Identität, begleitet von einem Gefühl ungläubigen Entsetzens, denn das, was er sah, war vollkommen unmöglich. Dann blinzelte er, und die Vision zerplatzte; er blickte in ein immer noch attraktives, aber vollkommen fremdes Gesicht.

Jemand rempelte ihn an. Bremer machte einen hastigen Schritt zur Seite, holte Luft zu einer ärgerlichen Bemerkung und machte sich gerade noch im letzten Moment klar, daß es seine Schuld gewesen war. Schließlich hatte er mitten in seinem Sturmschritt angehalten. Statt also eine seiner gefürchteten sarkastischen Bemerkungen anzubringen, murmelte er ganz im Gegenteil eine Entschuldigung und ging weiter, ohne sich auch nur umzudrehen. Einen Augenblick später verließ er die Klinik und rannte beinahe die Treppe hinunter.

Es regnete immer noch leicht, so daß er einen Vorwand hatte, die hundert Meter zum Parkplatz nun endgültig im Laufschritt zurückzulegen. Der Regen war nicht sehr heftig, aber eiskalt; zu kalt für die Jahreszeit. Seine Finger waren klamm und zitterten, als er den Schlüssel aus der Tasche zog; er brauchte Sekunden, um ihn ins Schloß zu fummeln, und noch einmal endlos, um die Tür aufzubekommen und sich hinter das Lenkrad fallen zu lassen.

Wenigstens redete er sich ein, daß es die Kälte war, die seine Hände zittern ließ.

Er hatte sich dieses Deja-vu nicht nur eingebildet. Was andererseits natürlich nicht stimmte. Die junge Frau, deren Gesicht er zu sehen geglaubt hatte, war vor fünf Jahren gestorben, und im Gegensatz zu ihm war sie nicht von den Toten wieder auferstanden. Es war eine Halluzination gewesen, ein böser Streich, den ihm sein Unterbewußtsein gespielt hatte, mehr nicht. Mehr nicht. Aber sie war so unglaublich realistisch gewesen.

So, wie Halluzinationen nun einmal waren? Bremer schenkte seinem eigenen Konterfei im Innenspiegel ein schiefes Grinsen. Sein Gesicht war naß und sehr bleich. Natürlich war es eine Halluzination, ausgelöst durch die Klinik und die größtenteils unangenehmen Erinnerungen, die er mit diesem Ort verband. Was ihn erschreckte, das war auch gar nicht der Zwischenfall selbst. Vielmehr die Intensität, mit der er darauf reagiert hatte.

Er schüttelte den Kopf, zog mit der linken Hand die Tür zu und schob mit der anderen den Zündschlüssel ins Schloß. Der Motor sprang wie üblich erst beim dritten oder vierten Versuch an, aber diesmal gestattete Bremer es sich ganz bewußt, sich darüber zu ärgern. Der Wagen war kein Jahr alt, aber sobald der Wetterbericht auch nur Regen ankündigte, hatte er Startschwierigkeiten. Er war mit dieser verdammten Karre schon ein halbes Dutzend Mal in der Werkstatt gewesen, ohne daß sie den Fehler gefunden hatten. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum er sich diese Unverschämtheit eigentlich gefallen ließ.

Der Trick mit der Ablenkung funktionierte. Als der Motor schließlich ansprang und stotternd auf Touren kam, ärgerte er sich zwar immer noch, aber die irrationale Furcht, die sich für einen Moment in seinen Gedanken ausgebreitet hatte, war wie fortgeblasen. Es lag einzig und allein an diesem verdammten Monstrum von Haus, in dem es zwar so wenig spukte wie in irgendeinem anderen Gebäude auf der Welt, mit dem er aber zu viele unangenehme Erinnerungen verband. So simpel war die Erklärung.

Bremer balancierte vorsichtig mit Kupplung und Gaspedal, damit der Motor nicht sofort wieder ausging - er wußte aus leidvoller Erfahrung, daß er danach für mindestens zwanzig Minuten gar nicht mehr anspringen würde - und nahm sich zum ungefähr zwanzigsten Mal vor, bei der nächsten Gelegenheit in die Werkstatt zu fahren und diesmal Tacheles mit den Burschen zu reden. »Die tun was«, knurrte er. »Freunde, ihr werdet euch wundern, was ich tue, wenn ihr diesen Schrotthaufen nicht bald hinkriegt!« Der Motor stotterte zur Antwort und lief ein wenig ruhiger, wenn auch noch immer nicht so rund, daß Bremer es wagte, schon loszufahren. Mit einem ärgerlichen Kopfschütteln ließ er sich im Fahrersitz zurücksinken. Auf ein paar Augenblicke mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an. Ganz im Gegenteil - vielleicht sollte er die wasserscheue Elektronik als seine Verbündete betrachten, statt sich über sie zu ärgern. Im Büro wartete nur ein Schreibtisch voller langweiliger Arbeit auf ihn. Manchmal fragte er sich, warum er sich um alles in der Welt das eigentlich noch antat. Nötig hatte er es weiß Gott nicht. Sein Blick fiel auf das Display des Handys, das sich automatisch eingeschaltet hatte, als er den Schlüssel herumdrehte. Das Gerät zeigte die Kleinigkeit von zehn Anrufen in Abwesenheit auf - vermutlich mehr; so viel Bremer wußte, war zehn die maximale Anzahl von Nummern, die der Apparat speichern konnte. Bremer zerbrach sich ein paar Sekunden lang vergeblich den Kopf, welche Tasten er nun in welcher Reihenfolge drücken mußte, um die Nummern der Anrufer auf dem Display erscheinen zu lassen, und gab es dann auf. Der Verkäufer, der ihm das Ding aufgeschwatzt hatte, hatte ihm versichert, daß die Bedienung kinderleicht wäre. Er hatte beim Einbau nur vergessen, das passende Kind mitzuliefern.

Die Anzeige im Display erlosch und machte dem Wort Anruf Platz, eine halbe Sekunde, bevor das Ding klingelte. Bremer drückte die Sprechtaste und sagte: »Ja?«

»Bremer?« Nördlingers Stimme war verzerrt und so laut, daß Bremer hastig nach dem Lautstärkeregler griff und ihn herunterdrehte.

»Ja«, antwortete er. »Oder wer sonst sollte sich unter meiner Nummer melden?« Aus irgendeinem Grund hatte er stets Hemmungen, sich am Autotelefon mit seinem Namen zu melden; eine kleine Marotte, die Nördlinger eigentlich akzeptieren sollte.

Er tat es nicht. »Dann melden Sie sich gefälligst mit Ihrem Namen«, knurrte er. »Ich versuche seit einer Stunde, Sie zu erreichen. Wo zum Teufel waren Sie?«

»Beim Arzt«, antwortete Bremer. Er schluckte alles, was ihm sonst noch auf der Zunge lag, herunter. Es war eine Menge. Nördlinger konnte ihn weder leiden, noch machte er einen Hehl daraus, und er würde den Teufel tun und dem Kerl auch noch Munition liefern. »Die übliche Routineuntersuchung.«

»Mit dem üblichen Ergebnis, nehme ich an«, sagte Nördlinger. »Dann fühlen Sie sich doch jetzt bestimmt in der Lage, Ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Fahren Sie zur Baldowstraße. Sie sehen dann schon, wo. Und wenn Sie das nächstemal zum Arzt oder sonstwohin gehen, dann nehmen Sie Ihr Handy gefälligst mit. Deswegen heißen die Dinger Handys. Weil man sie in die Hand nehmen kann. Nicht, damit man sie im Wagen liegen läßt.«

»In der Klinik sind sie verboten, soviel ich weiß«, antwortete Bremer. »Baldowstraße, sagten Sie?« Er versuchte sich zu erinnern, wo die Baldowstraße lag. Er war nicht ganz sicher, glaubte aber, daß es irgendwo im Ostteil war. Ganz eindeutig nicht ihr Revier.