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Look rannte so schnell wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er wußte, daß er keine Chance hatte, dem Ding zu entkommen, denn es war keine Halluzination, keine Ausgeburt seiner alkoholkranken Fantasie, sondern grauenhafte Wirklichkeit, und es war schnell, aber dieses Wissen spornte ihn nur zu noch größerer Schnelligkeit an. Er raste, immer zwei, manchmal drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf, erreichte das nächste Stockwerk und jagte den Flur entlang, um die nächste Treppe zu erreichen. Hinter sich hörte er das trockene Ledergeräusch riesiger Flügel, - die sich entfaltet hätten, hätte der Platz dazu gereicht -, das Scharren chitingepanzerter Gelenke und das Klacken stahlharter Klauen auf dem Boden. Er rannte noch schneller, schrie, kreischte, erreichte die nächste Treppe und katapultierte sich selbst am Geländer in die Höhe. Eine rasiermesserscharfe Klaue riß ein Stück von der Größe einer Hand aus dem Treppengeländer, genau dort, wo vor einem Sekundenbruchteil noch seine Finger gewesen waren, dann traf irgend etwas seinen Rücken, riß die Jacke, das Hemd und auch das Fleisch darunter auf und schleuderte ihn nach vorne. Wie durch ein Wunder stürzte er nicht, sondern wurde durch die schiere Wucht des Hiebes im Gegenteil noch einmal beschleunigt und gelangte so wieder aus der Reichweite der Bestie. Er hatte keine Schmerzen. Warmes Blut lief seinen Rücken hinunter und tränkte seine Hose. Er sollte Schmerzen haben. Doch alles, was er fühlte, war Angst; eine Furcht, die vielleicht einfach zu gewaltig war, als daß sie noch irgendein anderes, selbst körperliches Gefühl zugelassen hätte.

Er erreichte die nächste Etage, fand irgendwo in seinem Körper noch einmal ein bißchen Kraft und stürmte die nächste Treppe hinauf. Über und unter ihm begann das Haus allmählich zu erwachen, geweckt von seinen Schreien und dem Lärm der gnadenlosen Jagd. Zornige Stimmen wurden laut, Türen aufgerissen und hastig wieder zugeschlagen, aber Look nahm nichts davon noch wirklich zur Kenntnis. Seine Kräfte begannen zu erlahmen. Er war jetzt in der vierten Etage, und irgendwie brachte er es fertig, seine Beine immer noch einmal zu einem weiteren Schritt zu zwingen, aber er spürte auch, wie seine Kraftreserven mehr und mehr dahinschmolzen. Die beiden letzten Hiebe des Ungeheuers hatten ihn verfehlt, aber der nächste würde ihn treffen. Spätestens der übernächste.

Es war der übernächste. Look hatte die fünfte Etage erreicht, die rettende Tür zu seiner Wohnung lag vor ihm. Er war nicht in der Verfassung, sich Gedanken darüber zu machen, daß das dünne Holz nicht einmal einem ernstgemeinten Fußtritt Stand halten würde, geschweige denn dem Ding hinter ihm. Im Laufen versuchte er, den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen, fühlte einen Luftzug hinter sich und in der nächsten Sekunde einen grausamen, knochenbrechenden Schlag, der sein linkes Schulterblatt zertrümmerte und ihn quer durch den Flur und gegen seine eigene Wohnungstür schleuderte. Look wimmerte vor Pein, arbeitete sich in eine halb kniende Position hoch und versuchte, den Schlüssel ins Schloß zu schieben.

Eine gigantische Klaue zischte an seinem Kopf vorbei und stanzte drei fingerlange, dreieckige Löcher in das Holz der Tür unmittelbar neben seinem Gesicht. Look ließ den Schlüssel fallen, drehte sich wimmernd herum und riß die rechte Hand in dem vollkommen sinnlosen Versuch hoch, sein Gesicht zu schützen. Den linken Arm konnte er nicht mehr bewegen. Seine Schulter bestand nur noch aus tobendem Schmerz, Blut und weißen Knochensplittern, die durch den blutgetränkten Stoff seiner Jacke stachen. Der tödliche Hieb kam nicht. Noch nicht. Das Ding spielte nur mit ihm, als hätte es ihm noch nicht genug Angst eingejagt, noch nicht genug Schmerz zugefügt. Statt sein Gesicht zu zerschmettern, was es ohne Probleme gekonnt hätte, packte es mit seiner fürchterlichen Klaue nur seine Hand (wobei es ihm völlig unabsichtlich drei Finger brach), riß ihn in die Höhe und schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen das Treppengeländer, daß das morsche Holz krachte; von dem, was in seinem Rücken geschah, gar nicht zu reden. Für einen schrecklichen Moment drohte er das Gleichgewicht zu verlieren und hintenüber in die Tiefe zu stürzen. Er kämpfte instinktiv um seine Balance und gewann, aber eigentlich ohne zu wissen, warum. Ein Sturz in die Tiefe wäre wahrscheinlich gnädig gegen das, was ihn hier erwartete.

Die Kreatur stand reglos vor ihm, zwei Meter entfernt, womit er sich noch in Reichweite ihrer gräßlichen Klauen befand, machte aber keine Anstalten, ihn anzugreifen. Sie hätte ihm spielend den Schädel einschlagen, ihm das Rückgrat brechen oder ihm wahrscheinlich auch den Kopf abreißen können, wie sie es mit dem Hund der dicken Frau getan hatte. Look hatte die fürchterliche Kraft, die in diesen nur scheinbar so dünnen Gliedern wohnte, schließlich am eigenen Leib gespürt. Aber sie rührte sich nicht. Ihre Arme bewegten sich ruckartig und ziellos, wie die Vorderläufe einer Gottesanbeterin, aber sie stand einfach nur da und starrte ihn an - als wartete sie auf etwas. Worauf? Daß er sich wehrte, zu fliehen versuchte vielleicht, damit sie ihr grausames Spiel fortsetzen konnte?

»Was ... was willst du?« stammelte Look. »Was willst du von mir? Wer hat dich geschickt?« Die Kreatur antwortete nicht. Sie konnte es nicht. Sie hatte keine Sprechwerkzeuge.

Und hätte sie sie besessen, hätte sie trotzdem nicht geantwortet. Es war kein Geschöpf, das zum Reden geschaffen war. Aber Look las die Antwort auf seine Frage überdeutlich in seinen schwarzen seelenlosen Augen.

»Es ... es war nicht meine Schuld«, stammelte er. »Was hätte ich denn tun sollen? Ich konnte nichts machen! Ich ... ich wäre doch selbst gekascht worden!« Das Geschöpf hob langsam den Arm. Seine rasiermesserscharfen Klauen glitten über Looks Brust und schlitzten seine Kleider auf, ohne die Haut darunter auch nur zu berühren, setzten ihren Weg fort, berührten sein Kinn, seinen Mund und seine Wangen so sanft wie Schmetterlingsflügel und tupften seine Augenlider, um sich dann wieder zurückzuziehen. Aber dieses Geschöpf war nicht gekommen, um Gnade walten zu lassen. Diesen Begriff kannte es nicht einmal. Es zeigte ihm, was kommen würde.

»Aber es war doch nicht meine Schuld!« wimmerte Look. »Was sollte ich denn tun? Ich ... ich wollte doch nicht in den Bau! Bitte!« Er wimmerte, flehte, bettelte um sein Leben, aber er wußte auch, daß es vergebens sein würde. Die Kreatur hob erneut ihre fürchterliche Klaue, und diesmal teilte sich sein Fleisch, und warmes, rotes Blut lief über seinen Bauch und seine Lenden. Look kreischte vor Schmerz, warf sich nach hinten und kippte mit weit ausgebreiteten Armen über das Treppengeländer.

Er stürzte fünf Etagen weit in die Tiefe und landete genau auf dem Kinderwagen, den er vorhin selbst an die richtige Stelle befördert hatte, und dessen Kanten und Spitzen nun endlich etwas zum Aufspießen gefunden hatten. Der Krankenwagen, den ein aufgeregter Hausbewohner gerufen hatte, kam acht Minuten später, und die entsetzten Rettungssanitäter mußten feststellen, daß der Mann in dem zertrümmerten Kinderwagen nicht nur noch am Leben, sondern bei vollem Bewußtsein war.

Der Transport ins nächste Krankenhaus nahm weitere elf Minuten in Anspruch, und es vergingen noch einmal vier Minuten, ehe zwei leichenblasse Krankenpfleger das wimmernde Bündel auf einen OP-Tisch legten, wo es endlich seinen letzten Atemzug tat.

Die alttestamentarische Gerechtigkeit, die der Seele Azraels eingehaucht war, hatte Genugtuung erfahren.

16

Der Regen hatte aufgehört, als er die Kirche verließ, aber dafür war der Nebel dichter geworden. Thomas hatte ihn durch die Krypta ins Freie geleitet, so daß die Männer in dem Wagen auf der anderen Straßenseite nichts bemerkten, und ihm erklärt, wie er das Grundstück verlassen und den Block ungesehen umgehen konnte - was theoretisch ganz einfach war, sich in der Praxis jedoch durch den immer dichter werdenden Nebel als mittlere Odyssee erwies. Der Friedhof - Thomas behauptete, nicht zu wissen, wann er aufgegeben worden war, auf jeden Fall aber lange vor seiner Zeit - hatte weder Wege noch so etwas wie einen Trampelpfad, sondern erwies sich als eine einzige, von knöchelhohem Unkraut überwucherte Wildnis, über der Nebel lag wie eine vom Himmel herabgesunkene Wolke. Hier und da ragten Grabsteine oder zerborstene Skulpturen wie bizarre Artefakte einer vor Jahrtausenden untergegangenen Kultur aus der grauen Masse, das meiste aber war hinter faserigen Nebelschleiern verborgen, die im Grunde nicht einmal besonders dicht waren, es aber trotzdem unmöglich machten, weiter als ein oder zwei Dutzend Schritte zu sehen. Nach dem flüchtigen Eindruck, den er von seiner Ankunft her hatte, konnte das umfriedete Kirchengrundstück kaum größer sein als sechzig oder siebzig Meter, aber was er sah, schien das genaue Gegenteil zu beweisen. Bremer tastete sich fast blind durch den Nebel. Der Zaun konnte zehn Meter entfernt sein; genauso gut aber auch am anderen Ende der Welt liegen. Wäre er noch in jener sonderbaren, verwundbaren Stimmung gewesen, in der er die Kirche betreten hatte, hätte ihn diese Umgebung vielleicht in den Wahnsinn getrieben, denn sie war eindeutig unheimlich.