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Aber die beruhigende Wirkung ihres Gesprächs hielt noch immer an. Thomas' Worte hatten seiner Situation nicht ihren Schrecken genommen, aber sie hatten die Bedrohung von ihrer mythischen Ebene geholt. Vielleicht war es nicht mehr als eine fromme Lüge, an die er nur deshalb glaubte, weil er es wollte, aber im Moment war er der festen Überzeugung, es mit einem Feind aus Fleisch und Blut zu tun zu haben. Einem furchtbaren, gnadenlosen Feind vielleicht, aber trotzdem einem, der besiegt werden konnte. Der Weg über den verfallenen Friedhof erwies sich auch so als schwierig genug.

Bremer hörte nach einer Weile auf, mitzuzählen, wie oft er sich Zehen und Schienbeine an Hindernissen anstieß, die unter dem Nebel verborgen waren. Zwei- oder dreimal tat es ziemlich weh, und einmal durchfuhr ihn ein eisiger Schrecken, als er sich herumdrehte und sich unversehens einem mannsgroßen steinernen Engel gegenübersah, der ein wenig schräg auf seinem Sockel stand, einen Flügel abgebrochen und mit erhobenen Armen, durch die Beschädigung und die ungewöhnliche Körperhaltung einer Harpyie ähnlicher als einem himmlischen Sendboten. Für einen Moment begann sein Herz wieder zu jagen, und sein Puls beschleunigte sich zu einem rasenden, harten Hämmern, das sich bis in seine Fingerspitzen hinein fortsetzte. Aber schon in der nächsten Sekunde beruhigte er sich wieder. Nach allem, was passiert war, war es nur logisch, daß er allergisch auf alles reagierte, was mit Engeln zu tun hatte. Aber das lähmende Entsetzen, auf das er wartete, kam nicht. Er hatte sich einfach nur erschrocken, das war alles. Azraels böser Zauber war gebrochen. Vielleicht für immer.

Bremer schenkte dem flügellahmen Engel ein nervöses Lächeln, drehte sich wieder herum und stakste vorsichtig weiter durch den Nebel. Drei angeschlagene Zehen und ein aufgeschürftes Schienbein später erreichte er den mannshohen Zaun und wandte sich nach rechts, ziemlich wahllos. Er hatte so gründlich die Orientierung verloren, daß es gleich war, in welche Richtung er sich wandte.

In einem Punkt hatte Thomas die Wahrheit gesagt: Er mußte sich nicht damit abmühen, umständlich über den Zaun zu klettern. Schon nach wenigen Schritten erreichte er eine Stelle, an der es eine Lücke gab, durch die er sich mit einiger Mühe hindurchzwängen konnte. Vor ihm lag die Straße, und Bremer stellte mit einem Gefühl intensiver Erleichterung fest, daß er durch pures Glück in die richtige Richtung gegangen war. Er befand sich am westlichen Ende des Friedhofs. Die Kirche lag links von ihm, fast am anderen Ende der Straße, und der BMW parkte ungefähr auf halber Strecke auf der anderen Seite. Seine Insassen würden mit Sicherheit die Kirche beobachten, aber kaum die Straße hinter sich.

Trotzdem blieb er vorsichtig.

Von den Straßenlaternen brannten weniger als die Hälfte, so daß es überall große, vollkommen finstere Bereiche gab, die ein perfektes Versteck boten. Bremer visierte eines dieser schwarzen Löcher an, huschte hin und lehnte sich schwer atmend gegen die erloschene Laterne. Sein Herz jagte noch immer, und die Luft, die er in gierigen flachen Zügen in die Lungen sog, schmeckte scharf nach Metall. Der Weg über den Friedhof hatte ihn mehr Kraft gekostet, als ihm bisher bewußt gewesen war, und die Anstrengungen des vergangenen Tages und der Schlafmangel machten sich zusätzlich bemerkbar. Er blieb ein paar Minuten einfach so stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und nutzte die Zeit, um die gegenüberliegende Straßenseite und den Weg bis zu dem blauen BMW genauer in Augenschein zu nehmen.

Es sah nicht schlecht aus. Bremer beging nicht den Fehler, die Männer zu unterschätzen, mit denen er es zu tun hatte, aber er mußte zugeben, daß ihr Standpunkt nicht besonders klug gewählt war. Aus dem Wagen heraus konnte man die Kirche und einen Großteil des Grundstücks gut überblicken, aber die Fassaden der Häuser daneben lagen fast vollkommen im Dunkeln. Es gab nur zwei Stellen, an denen das blasse Licht der Straßenlaternen bis an die Häuser heranreichte, beide nicht sehr groß, und beide in einem für die Insassen des Wagens ungünstigen Winkel. Er brauchte nur ein wenig Glück, um sie zu überwinden. Sein eigentliches Problem begann erst, wenn es ihm gelang, den Wagen ungesehen zu erreichen. Bremer war früher einmal ein ganz passabler Boxer gewesen, aber es war Jahre her, daß er das letztemal im Ring gestanden hatte. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte er vermutlich keine Chance, mit mehreren Gegnern gleichzeitig fertig zu werden. Außerdem war er nicht hier, um sich in James-Bond-Manier mit den Kerlen herumzuprügeln. Bremer bedauerte es jetzt, seine Waffe nicht mitgenommen zu haben. Er würde bluffen müssen. Aber im Improvisieren war er schließlich schon immer gut gewesen.

Er suchte nach einer Stelle, an der er die Straße überqueren konnte, tat es und preßte sich für einige Sekunden in den schwarzen Schlagschatten der Hauswand. In dem BMW blieb alles still. Wie es aussah, hatte er wirklich Glück.

Bremer ging vorsichtig und stets darauf bedacht, im Schatten zu bleiben, weiter. Während er sich dem BMW näherte, grub er mit den Händen in den Jackentaschen. Alles, was er fand, waren ein Schlüsselbund, sein Dienstausweis (er war vermutlich nicht mehr das Papier wert, auf dem er gedruckt war), seine Geldbörse und ein Labello-Stift, den er vor gut einem Jahr gekauft und niemals benutzt hatte. Keine besonders reiche Ausbeute, aber er mußte nun einmal nehmen, was er hatte. Während er sich der ersten der beiden Lichtinseln näherte, die zwischen ihm und dem BMW lagen, verbarg er den Fettstift in der rechten Hand und legte Zeigefinger und Mittelfinger darüber. Wenn der Mann, den er damit zu bedrohen gedachte, zu genau hinsah, dachte er spöttisch, konnte er ja immer noch Peng, Peng machen.

Vor ihm lag jetzt ein ungefähr zehn Meter großer Bereich, der vom Licht einer der wenigen verbliebenen Straßenlaternen in silbernes Zwielicht getaucht wurde. Ein einziger Blick in den Rückspiegel, und er war so deutlich sichtbar wie auf dem Präsentierteller. Trotzdem widerstand er der Versuchung, zu rennen, sondern ging ganz im Gegenteil langsamer weiter. Er wußte, daß nichts so leicht Aufmerksamkeit erregte wie eine schnelle Bewegung. Einen Mann, der rannte, übersah niemand. Jemand, der sich langsam bewegte, konnte man selbst dann übersehen, wenn man ihn direkt ansah. Vor allem wenn man eine lange, langweilige Nachtwache hinter sich hatte.

Er erreichte wieder den schützenden Schatten, blieb stehen und ging nach ein paar Sekunden weiter, als sich nichts rührte. Der BMW blieb so still, als wären die Männer darin eingeschlafen. Vielleicht waren sie es ja.

Bremer erreichte den zweiten hellen Bereich, verfuhr auf die gleiche Weise wie beim ersten und durchquerte auch ihn unbehelligt. Er war jetzt noch ungefähr zehn Meter von dem BMW entfernt und konnte sein Glück kaum fassen - der Mann hinter dem Lenkrad ließ in diesem Moment die Scheibe herunterfahren und zündete sich eine Zigarette an. Zu Bremers Bedauern benutzte er dazu den Zigarettenanzünder, kein Feuerzeug, das das Wageninnere zusätzlich erhellte hätte. Trotzdem: Jetzt oder nie.