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»Soll ich Ihnen einen Stadtplan faxen?« fauchte Nördlinger. »Es geht um einen alten Freund von Ihnen. Sie werden schon sehen. Und jetzt beeilen Sie ich bitte. Die Kollegen warten schon.« Bremer schaltete ab, ohne sich mit irgendeiner Höflichkeitsfloskel aufzuhalten, schnitt dem Handy eine Grimasse und schaltete gleichzeitig Licht und Scheibenwischer ein. Der Motor lief jetzt sauber und rund. Er konnte es wagen, loszufahren.

Als er den Mondeo vom Parkplatz lenkte, glitt ein Schatten wie von etwas Riesigem, Geflügeltem über den regennassen Asphalt.

Bremer weigerte sich, hinzusehen. Er fädelte den Wagen in den fließenden Verkehr ein, fuhr mit zu schnellen achtzig Stundenkilometern stadteinwärts und lenkte sich mit der Frage ab, welchen Sonderauftrag Nördlinger heute wieder für ihn haben mochte. Kriminalrat Nördlinger war äußerst einfallsreich darin, unangenehme Beschäftigungen für diejenigen seiner Mitarbeiter zu finden, die er nicht leiden konnte; eine illustre Auswahl, auf deren Liste der Name Bremer zweifellos ganz oben stand. Seit Nördlinger seinen Dienst angetreten hatte (großer Gott, war das wirklich erst ein Jahr her? Bremer kam es vor wie zehn) hatte er keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß er erst zufrieden sein würde, wenn Bremer die großzügige Vorruhestandsvereinbarung annahm, die man ihm angeboten hatte - oder einen Fehler beging, der es ihm ermöglichte, ihn zu feuern. Beides war nicht sehr wahrscheinlich. Bremer fühlte sich mit noch nicht einmal fünfzig Jahren entschieden zu jung, um in Rente zu gehen und den Rest seiner Tage mit Zeitunglesen und der Pflege seiner Kakteenzucht zu fristen, und er war in seinem Job einfach zu gut, als daß ihm ein Fehler unterlaufen würde, der schwerwiegend genug war, ihm das Genick zu brechen. Außerdem war es ein unfairer Kampf. Nördlinger war trotz allem ein sehr fähiger Mann - wäre er das nicht, dann säße er schon lange nicht mehr auf dem Stuhl, auf dem er saß -, aber er war auch ein Mann mit einem unerschütterlichen Glauben an Autorität und Regeln. Bremer hingegen war bis zu einer gewissen - sehr hoch angesetzten - Grenze Persona non grata, und als solcher mußte er einem Mann wie Nördlinger ein Dorn im Auge sein. Es war nicht etwa so, daß Bremer die Tatsache, praktisch unangreifbar zu sein, jemals ausgenutzt hätte. Aber die bloße Möglichkeit, daß er es konnte, war wohl schon mehr, als Nördlinger ertrug. Er brauchte sehr viel länger als die veranschlagte halbe Stunde, um sein Fahrtziel zu erreichen. Trotz der noch frühen Stunde erstickte die Innenstadt schon fast im Verkehr. Das Gebiet rings um das neue Regierungsviertel war eine einzige Baustelle, und das würde sie Bremers Meinung nach auch noch mindestens fünf oder sechs Jahre lang bleiben, allen vollmundigen Versprechungen der Politiker zum Trotz. Erst, als er in den Ostteil (den alten Ostteil, verbesserte er sich in Gedanken. Daran würde er sich wohl nie gewöhnen) kam, wurde es ein wenig besser. Um das Maß vollzumachen, verfuhr er sich auf dem letzten Stück auch noch, so daß er nach dem Weg fragen mußte und es beinahe elf war, ehe er den Wagen - nachdem er den dritten Passanten nach dem Weg gefragt hatte - endlich um die letzte Biegung lenkte und sah, was Nördlinger gemeint hatte. Das Handy hatte in dieser Zeit dreimal geklingelt und hätte es wohl noch öfter getan, hätte er es nicht irgendwann kurzerhand ausgeschaltet. Ein Hoch auf die Technik.

Die Straße war heruntergekommen und mußte früher, noch zu DDR-Zeiten, so etwas wie ein bescheidenes Industriegebiet gewesen sein. Jetzt standen die meisten Gebäude leer und waren dem Verfall anheim gegeben. An einem normalen Tag traf man hier zusammengenommen vermutlich nicht einmal ein Dutzend Menschen.

Jetzt sah Bremer auf Anhieb gut die doppelte Anzahl von Autos; die - obligate - Menge von Neugierigen versuchte er erst gar nicht zu schätzen. Er hatte es schon vor Jahren aufgegeben, sich über Gaffer zu ärgern, die prinzipiell aus dem Nichts aufzutauchen pflegten und immer neue und erstaunlichere Ideen entwickelten, um Polizei, Feuerwehr und Notärzte an ihrer Arbeit zu hindern.

Er lenkte den Ford in scharfem Tempo auf die Menschenansammlung am Ende der Straße zu, brachte ihn im buchstäblich letzten Moment mit quietschenden Bremsen zum Stehen und quittierte die zornigen Blicke, die ihn trafen, mit einem schadenfrohen Grinsen. Ein weiterer Minuspunkt in seiner Personalakte, falls sich jemand seine Nummer merkte und ihn meldete. Es war ihm gleich. Mit etwas mehr als der notwendigen sanften Gewalt bahnte er sich einen Weg durch den Auflauf. Er kassierte und verteilte eine Anzahl derber Rippenstöße, Tritte gegen die Waden und auf die Zehen, aber der Saldo fiel eindeutig zu seinen Gunsten aus.

Der Grund des Menschenauflaufs befand sich nahezu am Ende der Straße und bestand aus zwei quer gestellten Streifenwagen und einem RTW der Berufsfeuerwehr. Dahinter erhob sich ein rostzerfressenes Wellblechtor, das ganz so aussah, als würde es nur noch von guten Wünschen und verkrustetem Staub vor dem Umfallen bewahrt. Ein leicht genervt wirkender Streifenpolizist hielt davor Wache, ließ ihn aber problemlos passieren, noch bevor er seinen Dienstausweis zücken mußte. Entweder kannte der Mann ihn, oder Nördlinger hatte sein Kommen ausführlich genug angekündigt. Bremer quetschte sich durch den schmalen Spalt zwischen den beiden Torflügeln. Beiläufig registrierte er das eingetrocknete Blut, das an dem Metall klebte.

Dahinter lag etwas, das Bremer auf den ersten Blick an eine Mischung aus einem Schrottplatz und einem aufgegebenen Fabrikhof erinnerte: Zerlegte Maschinen, Kisten, Metallschrott, halb ausgeschlachtete Autowracks, zerbrochenes Mobiliar und ganz ordinärer Müll bildeten ein einziges, ausuferndes Chaos. Ein halbes Dutzend Beamter stand tatenlos herum, und ein weiteres halbes Dutzend war mit Dingen beschäftigt, deren Sinn sich nur dem Eingeweihten offenbarte. Bremer wußte sofort, daß er sich am Schauplatz eines Verbrechens befand. Die Kollegen von der Spurensicherung waren damit beschäftigt, jeden rostigen Nagel zu katalogisieren und jeden Stein umzudrehen. Der Hof wurde an drei Seiten von schäbigen Gebäuden mit vernagelten Fenstern und Türen flankiert, nur direkt gegenüber des Tores gab es einen engen, mit einem Maschendraht verschlossenen Durchgang. Unmittelbar davor lag ein schmaler, mit einer schwarzen Plastikplane zugedeckter Körper. Ein Toter. Nördlinger hätte ihn nicht herbestellt, wenn es kein Toter wäre.

Bremer stockte zum ersten Mal, seit er aus dem Wagen gestiegen war, für einen kurzen Moment im Schritt, als er Nördlinger sah. Das war wirklich ungewöhnlich. Kriminalrat Nördlinger besuchte niemals einen Tatort, es sei denn in Begleitung eines Staatsanwalts oder eines Fernsehteams. Von beidem war weit und breit nichts zu sehen.

»Das hat lange gedauert«, sagte Nördlinger, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Hatten Sie Mühe, die Adresse zu finden?« Bremer verzog die Lippen zu etwas, das Nördlinger für ein Grinsen halten konnte, wenn ihm danach war, und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte gar keine Lust auf eine Zigarette, aber Nördlinger war der militanteste Nichtraucher, der ihm jemals begegnet war, und das allein war Grund genug. »Was ist passiert?« Nördlinger maß die Zigarette zwischen seinen Lippen mit einem angeekelten Blick, dann deutete er ein Achselzucken an und ließ die Bewegung in ein auf den zugedeckten Leichnam deutendes Nicken übergehen. Bremer trat an ihm vorbei, ging in die Hocke und streckte die Hand nach der Plastikfolie aus, und Nördlinger sagte: »Ich hoffe doch, Sie haben nicht zu ausgiebig gefrühstückt.« Es war albern. Bremer verfluchte sich im stillen dafür, aber er zögerte tatsächlich einen Moment, die Plane zurückzuziehen. Als er es dann doch tat, geschah es zu schnell und mit viel zuviel Kraft.