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Der Anblick war nicht so schlimm, wie er nach Nördlingers Worten erwartet hatte, aber schlimm genug. Bremer erstarrte für eine oder zwei Sekunden.

»Rosen«, sagte Nördlinger. »Ich hatte auch ein paar Schwierigkeiten, ihn wiederzuerkennen, aber er ist es.« Er atmete hörbar ein, zu tief und zu lange, als brauche er zusätzlichen Sauerstoff, um eine Übelkeit zu unterdrücken, und ließ sich dann neben Bremer in die Hocke sinken. Seine Kniegelenke knackten wie dünne, zerbrechende Äste. »Sehen Sie sich seine Hände an.« Bremer zog die Plane noch ein Stück weiter zurück. Er sah sofort, was Nördlinger meinte. Rosens Gesicht bot einen erschreckenden Anblick, aber seine Hände sahen noch viel schlimmer aus. Fast alle seine Fingernägel waren abgebrochen und blutig gesplittert. Mindestens zwei Finger mußten gebrochen sein, wahrscheinlich mehr, und seine Handflächen wiesen ein geometrisches Muster sich kreuzender Schnitte auf, die bis auf die Knochen hinab reichten. Das Muster in Rosens Händen paßte zu dem Maschendrahtzaun, vor dem man ihn gefunden hatte. Bremer brauchte nur eine Sekunde, um die dazugehörigen Blutspuren auf dem Draht zu finden.

»Was ist ... mit seinen Augen passiert?« fragte Bremer mühsam. Unter seiner Zunge begann sich bittere Galle zu sammeln. Er schluckte sie hinunter, warf die Zigarette neben sich auf den Boden und trat sie mit dem Absatz aus, ohne noch einmal daran gezogen zu haben.

»So, wie es aussieht, hat er sie sich ausgekratzt«, sagte Nördlinger. Bremer starrte ihn an, und Nördlinger nickte zwei- oder dreimal hintereinander, um seine Behauptung zu unterstreichen. »Wir müssen natürlich das endgültige Ergebnis der gerichtsmedizinischen Untersuchung abwarten, aber bisher deutet nichts auf Fremdeinwirkung hin.«

»Sie meinen, er hat sich das alles ... selbst angetan!«

»Er - oder jemand, der keinerlei Spuren hinterlassen hat.« Nördlinger erhob sich ebenfalls, wobei seine Gelenke erneut und noch lauter knackten, beugte sich dann aber noch einmal vor und schlug die Plane wieder über Rosens Gesicht. Es nutzte nicht viel. Bremers Magen revoltierte noch immer. »Jedenfalls keine, die wir gefunden haben.«

Oder wenigstens keine, die noch da wären, fügte Bremer in Gedanken hinzu. Er sprach es nicht laut aus. Es wäre nicht fair, und es wäre vor allem nicht wahr. Nördlingers Anruf lag fast eine Stunde zurück, und wahrscheinlich hatte die Spurensicherung den Hof schon abgesucht, lange bevor Nördlinger überhaupt eingetroffen war. Es gehörte zwar nicht viel dazu, dachte er spöttisch, aber selbst die Berliner Polizei war besser als ihr Ruf. Wenn Nördlinger sagte, daß keine Spuren da waren, dann waren keine Spuren da. »Vielleicht hat man ihn woanders umgebracht und die Leiche dann hierhergeschafft.«

»Ja. Vielleicht. Und dann ist der Tote aufgestanden und hat mit solcher Kraft am Draht gerüttelt, daß er sich die Hände daran aufgeschnitten hat.« Nördlinger schüttelte den Kopf. »Bevor oder nachdem er sich die Augen aus dem Kopf gerissen hat, was meinen Sie? Er ist hier gestorben. Die Frage ist nur, wie. Und warum.«

»Vielleicht, weil es doch so etwas wie eine höhere Gerechtigkeit gibt«, murmelte Bremer. Er hatte nicht vorgehabt, so laut zu sprechen, daß Nördlinger es hörte, aber Nördlinger hatte es gehört, und als Reaktion verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck noch mehr.

»Sparen Sie sich solche Sprüche bitte, Herr Bremer«, sagte er steif. »Vor allem, wenn jemand in der Nähe ist, der sie falsch verstehen könnte.«

»Ist denn jemand in der Nähe?« Die Frage war überflüssig. Die örtlichen Gegebenheiten waren ausnahmsweise einmal auf ihrer Seite. Die Mauern und das Wellblechtor hielten nicht nur zuverlässig die Gaffer fern, sondern ihnen - bisher jedenfalls - auch die Presse vom Hals. Sehr lange würde das wahrscheinlich nicht mehr so bleiben. Nördlinger würdigte ihn nicht einmal einer Antwort.

Bremer kratzte all seinen Mut zusammen, ließ sich noch einmal in die Hocke sinken und zog mit spitzen Fingern die Plane vom Gesicht des Toten. Diesmal war er auf den Anblick vorbereitet. Sein Magen rebellierte zwar noch immer, versuchte aber wenigstens nicht mehr, aus seinem Hals herauszuspringen. Er hatte schon Tote gesehen, die schlimmer zugerichtet waren.

»Keine schöne Art, zu sterben«, sagte Nördlinger leise.

Bremer zuckte die Schultern. »Ein paar von seinen Opfern sahen schlimmer aus.«

Nördlinger schenkte ihm einen verwirrten Blick, beließ es aber bei einem Achselzucken. Vermutlich verstand er nicht einmal, was Bremer meinte. Auf den ersten Blick bot Rosens Gesicht einen Anblick, das an Grauen kaum noch zu übertreffen war. Es waren nicht einmal die fehlenden Augen. Jemand hatte seine Lider geschlossen, aber das machte es beinahe noch schlimmer. Die Augäpfel dahinter waren nicht mehr da. Wo sich die Haut über sanfte Rundungen spannen sollte, waren eingesunkene Löcher. Rosens Wangen und Kinn waren von tiefen Kratzern und Rissen zerfurcht, die zum Teil bis auf den Knochen hinabreichten. Er mußte unvorstellbar gelitten haben, bevor sein Herz endlich ausgesetzt hatte. Keines seiner Opfer war so zugerichtet gewesen. Bremer hatte sie alle gesehen. Trotzdem war ihr Anblick schlimmer gewesen. Es war der Ausdruck auf den Gesichtern der Kinder. Keines seiner Opfer hatte auch nur annähernd solche Qualen erlitten, wie sie Rosen ausgestanden haben mußte. Verglichen damit hatte er seinen Opfern ein gnädiges, schnelles Ende bereitet. Wovon Bremer gesprochen hatte, war jedoch nicht der Ausdruck körperlicher Qual. Es war das Entsetzen.

Die vollkommene, hilflose Fassungslosigkeit, das unbeschreibliche Gefühl, ausgeliefert zu sein, und diese eine, niemals beantwortete Frage, die er in ihrer aller Augen gelesen hatte: Warum ich?

Er schüttelte den Gedanken ab. »Wann ist es passiert?«

»Irgendwann zwischen Mitternacht und drei«, antwortete Nördlinger. »Soweit man das bisher sagen kann. Der Nachtwächter hat ihn heute morgen gegen sechs gefunden.« Bremer sah auf die Uhr. Es war fast Mittag. Er fragte sich, warum man den Toten noch nicht weggebracht hatte, stellte die Frage aber nicht laut. Nördlinger würde seine Gründe haben. Und wenn nicht, dann ging es ihn nichts an.

»Und was habe ich damit zu tun?«

»Sie machen mir Spaß«, sagte Nördlinger. »Wenn ich richtig gezählt habe, ist das Nummer vier auf Ihrer Liste.«

Bremer sah auf. »Vier?«

»Halbach, Belozky, Lachmann - und jetzt Rosen.« Nördlinger hielt die gleiche Anzahl Finger in die Höhe und schüttelte den Kopf. »Keine schlechte Bilanz, in vier Monaten.«

»Was soll das heißen?« Bremers Stimme war jetzt eine Spur schärfer, aber Nördlinger zeigte sich vollkommen unbeeindruckt. Nach einer oder zwei Sekunden gönnte er Bremer sogar eines seiner seltenen Lächeln.

»Gar nichts«, sagte er. »Ich zähle nur zwei und zwei zusammen - bevor es jemand anderes tut. Glauben Sie denn wirklich, ich wäre der einzige, der da gewisse Zusammenhänge erkennt?«

»Das einzige, was ich erkenne, ist ein toter Kindermörder.« Bremer stand auf. »Vielleicht hat er in einem klaren Moment ja begriffen, was er für ein Ungeheuer ist, und sich aus lauter Entsetzen darüber selbst umgebracht.« Nördlinger wiederholte sein Kopfschütteln, trat an Bremers Seite und versuchte mit der Schuhspitze die Plane wieder über Rosens Gesicht zu schieben. Ohne Erfolg.

»Verstehen Sie mich doch nicht falsch, Bremer«, sagte er. »Mein Mitleid mit diesem Kerl hält sich genauso wie Ihres in Grenzen. Und das gilt für die drei anderen genauso. Aber ich habe heute morgen schon eine Menge unangenehmer Fragen beantworten müssen, und ich fürchte, ich werde noch sehr viel mehr davon hören, bis ich heute abend nach Hause gehe. Ich hatte gehofft, daß Sie ein paar Antworten für mich haben.« Die Ungeheuerlichkeit, die sich hinter diesen Worten verbarg, kam Bremer erst nach ein paar Sekunden wirklich zu Bewußtsein. Zu seiner eigenen Überraschung wurde er aber nicht einmal wütend. Nicht wirklich. Was Nördlinger gerade angedeutet hatte, war so bizarr, daß er für einen Moment ... gar nichts empfand.