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»Ich habe für die Zeit zwischen Mitternacht und drei kein Alibi, wenn Sie das meinen«, sagte er spröde. »Möchten Sie meinen Dienstausweis und meine Waffe?«

»Seien Sie nicht albern«, antwortete Nördlinger. »Niemand verdächtigt Sie, oder wirft Ihnen irgend etwas vor. Als Halbach starb, waren Sie nicht einmal in der Stadt, nicht wahr? Ich sage das nur, weil es da gewisse ... Parallelen gibt.«

»Sie sind alle drei tot, das stimmt«, sagte Bremer feindselig.

»Und?« Nördlinger zuckte ungerührt mit den Schultern. »Wenn sie mir aufgefallen sind, könnten sie auch anderen auffallen.«

»Ich...«

»Ich erwarte Sie in zwei Stunden in meinem Büro«, fuhr Nördlinger fort, noch immer ruhig, jetzt aber in verändertem, dienstlicherem Tonfall, der einen Befehl aus ihnen machte und die Diskussion gleichzeitig beendete.

»Soll ich eine Zahnbürste mitbringen?«

Nördlinger verdrehte die Augen. »Bremer - tun Sie mir und vor allem sich selbst einen Gefallen und strapazieren Sie meine Geduld nicht noch mehr. Ich erwarte ein paar konstruktive Vorschläge von Ihnen, keine dummen Sprüche. In zwei Stunden.« Er ging. Bremer starrte ihm wütend nach. Nördlinger hatte es wieder einmal geschafft, ihn aus der Ruhe zu bringen. Das gelang ihm beinahe jedesmal. Sie gingen sich aus dem Weg, so gut es ging, aber immer war das nun einmal nicht möglich, und wenn es überhaupt etwas gab, das Kriminalrat Nördlingers Pedanterie noch übertraf, dann war es seine Fähigkeit, seinen Gesprächspartner mit ein paar gezielten Bemerkungen auf die Palme zu bringen.

Vor allem, wenn dieser Gesprächspartner Bremer hieß. Vielleicht, überlegte er, war er ja nur deshalb so wütend, weil er immer wieder darauf hereinfiel. Dabei wäre es gar nicht nötig gewesen. Er war ziemlich sicher, daß er Nördlinger gewachsen war, wenn es ihm nur einmal gelang, Ruhe zu bewahren. In zwei Stunden, wenn sie sich wiedersahen, würde er sich einfach zusammenreißen. Und sei es nur, um Nördlinger nicht zwei Triumphe an einem Tag zu gönnen. Einer war genug. Mehr als genug, wenn man es genau nahm.

Bremer verspürte ein unangenehmes Kratzen im Hals. Er unterdrückte ein Husten und kramte in seinem Mantel nach einem Taschentuch, als sich ein Kribbeln in der Nase hinzugesellte. Er fand keines, hob im letzten Moment den Handrücken unter die Nase und nieste so kräftig, daß seine Trommelfelle knackten.

»Hier ... bitte.« Jemand hielt ihm ein offenes Päckchen Tempo hin. Bremer putzte sich ausgiebig die Nase, nickte dankbar und räusperte sich mehrmals hintereinander und übertrieben, damit das Kratzen in seinem Hals aufhörte. Es half allerdings nicht viel. Offensichtlich hatte er sich irgendwo eine Erkältung eingefangen.

Erst dann drehte er sich zu dem Mann herum, der ihm das Taschentuch gegeben hatte. Er erwartete, einen seiner Kollegen zu sehen, vielleicht jemanden von der Spurensicherung, oder auch einen uniformierten Beamten. Statt dessen blickte er in das Gesicht eines vielleicht dreißigjährigen, dunkelhaarigen Mannes, der einen für die Witterung viel zu dünnen schwarzen Sommeranzug trug, dazu ein ebenfalls schwarzes Hemd - und einen weißen Priesterkragen.

»Danke«, sagte er überrascht. »Was ... was tun Sie hier?«

»Nehmen Sie ruhig das ganze Päckchen«, sagte der andere lächelnd. »Sie hören sich an, als könnten Sie es gebrauchen.« Bremer griff fast automatisch zu und steckte die Taschentücher ein. Gleichzeitig sah er sich verwirrt um. Er hatte sich zwar in den letzten Minuten intensiv mit Nördlinger beschäftigt, aber er war auch vollkommen sicher, ganz bestimmt keinen Geistlichen gesehen zu haben, als er vorhin gekommen war.

»Was tun Sie hier?« wiederholte er. »Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Thomas«, antwortete der andere. »Vater Thomas - aber vergessen Sie den Vater ruhig. Niemand nennt mich so. Ist er das? Sie gestatten doch.« Er deutete auf Rosens Leichnam und ließ sich daneben auf ein Knie herabsinken, ohne Bremers Antwort abzuwarten. Während er mit der rechten Hand ein winziges Silberkreuz an einer Kette unter dem Hemd hervorzog, entfernte er mit der anderen die schwarze Plane von Rosens Gesicht. Auf seinen Zügen zeigte sich nicht die geringste Reaktion, als sein Blick in Rosens zerstörtes Gesicht fiel. Er tat alles so schnell und mit einer solchen Selbstverständlichkeit, daß Bremer nicht einmal auf die Idee kam, ihn davon abzuhalten, sondern die kniende Gestalt vor sich nur mit einer Mischung aus Überraschung und Staunen anstarrte. Es dauerte Sekunden, bis er seine Fassung wiederfand.

»Bitte ... entschuldigen Sie«, sagte er. Keine Reaktion. »Thomas?«

Er sprach den Vater tatsächlich nicht aus, wenn auch weniger, weil Thomas es ihm angeboten hatte. Er wäre sich albern dabei vorgekommen, einen Mann Vater zu nennen, der jung genug war, um sein Sohn zu sein. Und den er vielleicht in der nächsten Minute verhaften mußte.

Es vergingen noch einmal Sekunden, bevor Thomas reagierte. Er hatte die Augen geschlossen und Zeige- und Mittelfinger der linken Hand auf die Stirn des Toten gelegt. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Nachdem er sein stummes Gebet zu Ende gesprochen hatte, hob er das kleine Kreuz an die Lippen, küßte es flüchtig und verbarg es dann wieder unter seinem Hemd. Erst dann stand er auf und wandte sich wieder zu Bremer um.

»Bitte verzeihen Sie«, sagte er, »aber...«

Bremer unterbrach ihn. »Was suchen Sie hier?« fragte er, in ganz bewußt nicht mehr allzu freundlichem Ton. »Wer hat Sie hier hereingelassen?«

»Ihr Kollege am Tor war so freundlich, mich einzulassen«, antwortete Thomas. Bremer wandte den Kopf und warf dem Mann einen ärgerlichen Blick zu, aber Thomas schüttelte rasch den Kopf und zog seine Aufmerksamkeit mit einer entsprechenden Geste wieder auf sich.

»Nehmen Sie es ihm nicht übel«, sagte er lächelnd. »Ich weiß, daß er es wahrscheinlich nicht gedurft hätte. Aber nicht jeder kann sich der Autorität eines Priesterkragens widersetzen.«

»Da haben Sie verdammt recht«, sagte Bremer. »Er hätte Sie nicht hereinlassen dürfen. Wir sind hier am Tatort eines Verbrechens. Kannten Sie den Toten?«

Thomas verneinte. »Ich bin nur zufällig vorbeigekommen. Als ich hörte, was geschehen war, habe ich Ihren Kollegen gebeten, mich einzulassen. Bitte, bereiten Sie ihm deswegen keine Schwierigkeiten. Es wäre mir unangenehm.«

»Wieso?« fragte Bremer. »Warum wollten Sie hier herein?«

»Um dem Toten die Sakramente zu geben«, antwortete Thomas.

»Die Sakramente?« Bremer legte den Kopf schräg. »Um ehrlich zu sein, habe ich mit der Kirche nicht viel am Hut. Aber trotzdem ... erteilt man die Sterbesakramente nicht eigentlich, bevor jemand stirbt?«

»Wenn die Zeit dafür reicht, ja«, sagte Thomas. »Leider kommen wir nicht immer rechtzeitig.«

»Das stimmt«, antwortete Bremer. »In diesem Fall kommen Sie ungefähr vierzig Jahre zu spät.« Thomas' Blick nach zu schließen, verstand er nicht, was Bremer damit meinte - und wie auch? Bremer machte jedenfalls keinen Versuch, seine Worte irgendwie zu erklären, sondern fuhr mit einer unwilligen Geste zum Tor hin fort: »Ich muß Sie bitten, jetzt wieder zu gehen. Die Spurensicherung ist noch nicht fertig. Sie behindern uns bei unserer Arbeit.«

»Gleich.« Thomas drehte sich wieder zu dem Toten herum. »Ich möchte nur noch...« Bremer ergriff ihn am Arm. »Nein, Vater«, sagte er betont. »Jetzt. Es sei denn, Sie könnten mir vielleicht irgend etwas über den Toten erzählen, was ich noch nicht weiß.«

»Ich möchte Sie wirklich nicht behindern«, sagte Thomas. Er lächelte noch immer, und aus irgendeinem Grund wußte Bremer einfach, daß es ein echtes Lächeln war, kein berufsmäßig aufgesetztes. »Es ist auch nicht meine Aufgabe. Ich bin nur für das Seelenheil dieses Mannes verantwortlich.«