Выбрать главу

»Machen Sie sich darum keine Sorgen«, sagte Bremer. »Es sei denn, Sie glauben wirklich an ein Leben nach dem Tod.«

»Ich wäre nicht hier, wenn ich das nicht täte, Herr Bremer«, antwortete Thomas ernst. »Sie tun es doch auch.«

Und ob, dachte Bremer. Ich könnte dir eine Menge darüber erzählen, mein Freund. Ich bin nur nicht sicher, ob es dir gefallen würde. Er sagte das nicht laut. Es gehörte nicht hierher. Und dazu kam noch etwas: Er konnte es nicht begründen, aber dieser junge Geistliche ... verunsicherte ihn. Wäre er sich bei dem Gedanken nicht so albern vorgekommen, dann hätte er gesagt: Er war ihm unheimlich. Statt dessen sagte er: »Manchmal wünschte ich es mir. Wenn es so wäre, dann könnte ich wenigstens sicher sein, daß dieser Kerl für alle Zeiten in der Hölle brennt.«

Thomas sah ihn fast bestürzt an. Sein Lächeln erlosch. Nein: Es erlosch nicht. Es wurde traurig. »Haß ist keine gute Kraft, Herr Bremer«, sagte er. »So wenig wie Rache.«

»Das mag sein.« Bremer ließ endlich Thomas' Arm los und zog eine Grimasse. »Aber manchmal hilft es.«

»Niemandem ist damit geholfen«, widersprach Thomas. »Rache macht die Opfer dieses Mannes nicht wieder lebendig.«

»Woher wissen Sie, daß er Opfer hatte?« fragte Bremer blitzschnell. Sein latentes Mißtrauen wurde schlagartig zu der Gewißheit, daß Vater Thomas ihm bisher nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.

»Ich habe gehört, wie sich die Leute draußen über ihn unterhalten haben«, antwortete Thomas. »Das ist Rosen, nicht wahr? Stefan Rosen.«

»Sie kennen ihn?«

»Ich lese Zeitung«, erwiderte Thomas. »Und ich habe einen Fernseher.«

»Dann werden Sie um so besser verstehen, daß ich nicht unbedingt vor Mitgefühl zerfließe«, sagte Bremer. Er schüttelte fast zornig den Kopf. »Also meinetwegen. Geben Sie ihm die letzte Ölung, oder was immer Sie auch tun müssen. Und dann gehen Sie. Aber vorher haben Sie noch die Güte, meinem Kollegen vorne am Tor, der Sie so großzügig eingelassen hat, Ihre Personalien zu geben.«

»Darf ich fragen, warum?« Thomas wirkte jetzt doch ein wenig verunsichert. Offenbar, dachte Bremer schadenfroh, war ein weißer Priesterkragen nicht das einzige, was eine gewisse Autorität ausstrahlte.

»Reine Routine, Vater. Reine Routine.«

Erst eine gute Viertelstunde später, als er schon wieder im Wagen saß und sich auf dem Weg nach Hause befand, fiel ihm etwas auf, was er die ganze Zeit über unbewußt gespürt hatte, ohne es präzisieren zu können. Thomas hatte ihn zweimal mit seinem Namen angesprochen. Aber er hatte seinen Namen gar nicht genannt.

3

Bremer fuhr nicht direkt ins Präsidium, obwohl er alles hatte - nur keine Zeit. Auf seinem Schreibtisch stapelte sich die Arbeit, und er war ziemlich sicher, daß der Leichenfund von heute morgen den Berg noch weiter anwachsen lassen würde; Nördlinger hatte ihn bestimmt nicht zu sich bestellt, um ein wenig zu plaudern.

Trotzdem fuhr er zuerst nach Hause. Er hatte Mühe, den Weg zu finden und noch mehr Mühe, ihn unfallfrei zurückzulegen. Bremer war innerlich nicht halb so ruhig, wie er sich äußerlich gegeben hatte, als er den verkommenen Hinterhof verließ. Ganz im Gegenteil. Die Ruhe, die er empfand, war mehr ein Schock als alles andere; eine Art von Lähmung, die weniger seinen Körper oder den logischen Teil seines Denkens befallen hatte, wohl aber seine Emotionen. Sein Bewußtsein hatte eine Mauer um einen bestimmten Teil seiner Erinnerungen errichtet, durch die kaum noch etwas hindurchkam, aber er wußte, was dahinter lag, und dieses Wissen allein war schon fast mehr, als er ertragen konnte. Bremer fühlte sich, als hätte jemand sein Gehirn in Watte gepackt: Alles war düster, dumpf, als fehle eine ganze Facette der Realität. Trotzdem: Auch wenn er normalerweise nichts davon hielt, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen: In diesem Moment war er froh, daß diese Mauer da war.

Rosen. Wenn es in Bremers beruflichem Leben einen Alptraum gab, dann hieß er Stefan Rosen. Bremer hatte ihn das letztemal vor gut drei Jahren gesehen, und er hatte darum gebetet, ihn niemals wiedersehen zu müssen - es sei denn als Leichnam -, aber es hatte in diesen drei Jahren nicht einen Tag gegeben, an dem er nicht mindestens einmal an Rosen gedacht hätte.

Er parkte den Ford verkehrswidrig auf einem der beiden Behindertenparkplätze vor dem Haus, in dem er wohnte, fuhr mit dem Aufzug in die fünfte Etage hinauf und warf in einer einzigen, tausendfach geübten Bewegung die Tür hinter sich zu, seinen Mantel in Richtung Garderobe und die Autoschlüssel auf die Couch. Das Display des Anrufbeantworters blinkte. Bremer löschte die eingegangenen Anrufe, ohne sie abgehört zu haben, schaltete das Gerät aus und zog nach kurzem Überlegen den Stecker aus der Dose. Er fühlte sich noch immer wie in Trance, gefangen in einem bösen Traum, in dem ein geistesgestörter Serienkiller nicht nur die Haupt-, sondern auch die einzige Rolle spielte und in dem die Wirklichkeit zu einer bloßen Kulisse verkommen war; Staffage, die nur dem einzigen Zweck diente, dem Monster eine angemessene Bühne für seinen großen Showdown zu bieten. Er hätte es nicht ertragen, jetzt eine menschliche Stimme zu hören. Nicht einmal vom Tonband. Es war seltsam. Seit drei Jahren, seit dem Tag, an dem er den Gerichtssaal verlassen und Rosens triumphierendem Grinsen begegnet war, hatte er von diesem Moment geträumt: von dem Augenblick, in dem er neben Rosens Leichnam stehen und sich endlich sagen würde, daß die Gerechtigkeit am Ende doch gesiegt hatte. In manchen dieser Tagträume hatte er einfach Rosens Leichnam gefunden, so wie es vor einer Stunde tatsächlich passiert war, in manchen hatte er ihn selbst getötet, in den meisten hatte er einfach tatenlos zugesehen, wie er in tödlichem Morast versank, von einem tollwütigen Hund zerrissen oder von seinen eigenen Opfern hingerichtet wurde, die aus ihren Gräbern wieder auferstanden waren - infantile Rachefantasien, die ihm manchmal selbst peinlich gewesen waren, von denen die Psychologen aber immerhin behaupteten, daß sie nützlich seien, um Spannungen abzubauen und Schmerz zu verarbeiten. Bremer bezweifelte das. Aber nützlich oder nicht: Wenn es einen Menschen gab, dessen Tod er sich ehrlich gewünscht hatte, dann war es dieses Monster gewesen.

Wieso war er dann nicht erleichtert? Wieso, verdammt, empfand er nichts von alledem, was er sich vorgestellt hatte? Weder Erleichterung noch Triumph oder Befriedigung. Rosen war tot. Ganz eindeutig. Die gute Sache hatte am Ende doch gesiegt, und Bremer hatte wieder einmal einen Beweis für seine tiefempfundene Überzeugung erhalten, daß es eine höhere Gerechtigkeit im Leben gab.

Und er fühlte sich so niedergeschlagen und mies wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Es hieß, daß jeder Sieg auch einen schalen Beigeschmack hinterließ. Wenn das stimmte, dachte er, dann mußte er an diesem Morgen einen gewaltigen Sieg errungen haben.

Als er in die Küche ging, um sich einen Kaffee aufzubrühen, zitterten seine Hände so heftig, daß er mehr Wasser neben als in die Maschine schüttete und beide Hände brauchte, um den Kaffee in den Filter zu bekommen.

Bremer streckte die Hand nach dem Schalter aus, schloß dann die Augen und blieb fast zehn Sekunden reglos und mit angehaltenem Atem stehen, ehe er die Bewegung zu Ende führte. Als er die Lider wieder hob, ging es ein wenig besser. Seine Hand zitterte immer noch, jetzt aber wenigstens nicht mehr so stark, daß er Gefahr lief, die ganze Maschine von der Anrichte zu werfen, und auch sein Atem hatte sich ein wenig beruhigt. Ein wenig. Nur ein wenig. Bremer fuhr sich nervös mit dem Handrücken über das Gesicht und spürte kalten, klebrigen Schweiß. Sein Puls jagte. Statt sich zu beruhigen, begann sein Nervenkostüm immer heftiger zu flattern. Er kam sich vor wie eine Maschine, die außer Kontrolle geraten war und nun immer schneller und schneller lief, ohne daß irgend jemand in der Lage war, sie anzuhalten. Vielleicht sollte er einfach heiß duschen, um sich zu beruhigen.