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Er wollte so gerne ausruhen. Sich ein wenig Pause gönnen, für den letzten, schwersten Teil der Aufgabe. Aber er durfte es nicht. Das Leben wich jetzt immer schneller aus ihm. Wenn er aufhörte, sich zu bewegen, dann für immer. Irgendwie gelang es ihm, das Kästchen zu öffnen und die drei winzigen Glasröhrchen herauszuschütteln. Seine Finger tasteten blind über den schwarzen Samt, der darunter lag, krallte sich mit den Nägeln hinein und zogen ihn heraus. Darunter befand sich eine schmale Vertiefung, in der eine verchromte Spritze mit einer nur drei Zentimeter langen Nadel lag. In ihrem Inneren befand sich eine vierte Phiole mit dem Azrael-Serum.

Brauns Gedanken verschleierten sich. Alles wurde wattig, unwirklich, grau. Er konnte spüren, wie seine Kraft versiegte. Wie er starb.

Mit einer unvorstellbaren Willensanstrengung zog Braun die Spritze aus dem Kästchen heraus und drückte den Kolben um wenige Millimeter herunter. Ein ganz leises Knacken drang aus seiner Tasche. Seine Handfläche wurde feucht, als die gläserne Schutzmembran im Inneren der Phiole zerbrach und zwei oder drei Tropfen der kostbaren Flüssigkeit aus der Nadel quollen.

Noch einmal. Eine allerletzte, verzweifelte Anstrengung, in die er alle Kraft legte, die er noch hatte, die Energie seines unwiderruflich letzten Atemzuges. Braun trieb die Nadel in seinen Handballen und drückte den Kolben herunter, und sein Herz tat noch einen einzigen, schweren Schlag und verstummte dann.

39

Der Sarkophag war zweieinhalb Meter lang, einen Meter breit und bestand aus einem Material, das wie Chromstahl ausgesehen hätte, wäre es nicht vollkommen schwarz gewesen. Trotz seiner eigentlich schlanken Form wirkte er äußerst massiv; man sah ihm irgendwie an, daß es nicht viel gab, was dieses Gebilde ernsthaft beschädigen konnte, und vielleicht nichts, was in der Lage wäre, es wirklich zu zerstören.

Bremer trat mit klopfendem Herzen näher. Es war ein Sarkophag, das wußte er. Das Gebilde ähnelte tatsächlich jenen Särgen, die man in den Gräbern altägyptischer Könige gefunden hatte, war aber sehr viel schlichter. Das Material, aus dem es bestand, schien das darauf fallende Licht zu schlucken, und als Bremer vorsichtig die Hand ausstreckte und es berührte, spürte er, wie kühl und glatt es sich anfühlte, nicht wie Metall oder Glas, sondern wie eine geheimnisvolle, temperatur- und reibungsfreie Legierung, die vielleicht von einem anderen Planeten stammen mochte. Im oberen Drittel des Sarkophags war eine fünf mal fünf Zentimeter große Taste angebracht, die in einem dunklen, bräunlichen Glanz schimmerte; wenn auch nur so blaß, daß man sehr genau hinsehen mußte, um sie zu erkennen. Bremer streckte die Hand nach dieser Taste aus, zögerte dann aber und sah noch einmal zu Angela herüber. Sie stand mit konzentriertem Gesichtsausdruck vor dem Computer. Ihre Lippen bewegten sich, fast als würde sie mit dem Gerät reden. Es war besser, wenn er sie nicht störte. Außerdem war er nicht einmal sicher, ob er wollte, daß sie herkam. Dies hier war ganz allein seine Sache.

Wieder streckte er die Hand aus, und wieder zögerte er. Er glaubte ein Wispern zu hören, als unterhielten sich lautlose Stimmen in den Schatten, und als er den Blick hob, da meinte er für einen ganz kurzen Moment tatsächlich eine huschende Bewegung zu erkennen, gerade außerhalb des Bereiches, in dem er wirklich scharf sehen konnte.

War es die Kreatur, die gekommen war, um ihren Herrn zu beschützen?

Nein. Wäre sie es, dann wäre er jetzt schon nicht mehr am Leben. Was immer die Aufgabe des Dämons war, den Haymar erschaffen hatte, sie bestand nicht darin, ihn zu töten. Dazu hätte sie ein dutzendmal Gelegenheit gehabt. Vielleicht war es genau umgekehrt. Vielleicht hatte ihre Aufgabe nur darin bestanden, ihn hier herunter zu bringen, damit er die arme, leidende Seele in dem schwarzen Sarkophag endlich erlösen konnte.

Bremer streckte mit einem Ruck den Arm aus und drückte die Taste.

Ein leises Klicken erscholl. Einige Sekunden herrschte Stille, dann hörte Bremer ein dunkles, allmählich lauter werdendes Summen, und im gerade noch so fugenlos erscheinenden Metall erschien ein haarfeiner Riß, der das obere Drittel des Sarkophags in zwei symmetrische Hälften teilte, die langsam auseinanderglitten. Zischend entwich eiskalter, nach einem scharfen Desinfektionsmittel riechender Dampf aus dem Behälter, und unter der Decke des Raumes begann eine rote Warnleuchte zu blinken.

Bremer wich einen Schritt zurück und sah automatisch wieder zu Angela hoch, konnte sie aber durch die immer dichter werdenden Dampfschwaden nicht erkennen. Zu dem flackernden roten Licht gesellte sich jetzt noch ein mißtönendes Hupen. Offensichtlich war in den Computerprogrammen, die den lebenden Leichnam in dem Sarkophag bewachten, nicht vorgesehen, daß jemand die Glaswand der Isolierkammer einschlug und dann den Sarg öffnete. Bremer wartete, bis der Strom aus eisigem Dampf allmählich schwächer wurde, und trat dann mit klopfendem Herzen an den offenstehenden Sarkophag heran. Über dem Behälter lag noch immer eine Schicht aus faserigem grauem Dunst, so daß er im ersten Moment noch immer nicht genau erkennen konnte, was darin lag.

Vielleicht war es auch gut so. Vielleicht hätte er den Anblick sonst nicht ertragen. Und vielleicht ertrug er ihn noch nicht einmal jetzt, obwohl ihn die ganz allmählich auseinandertreibenden grauen Schwaden noch einige wertvolle Sekunden ließen, um sich daran zu gewöhnen.

Das erbarmungswürdige ... Etwas, das einmal ein Mensch gewesen war, lag auf der golden schimmernden Isolierfolie, mit der das gesamte Innere des Sarkophags ausgekleidet war. Sein Körper war auf die Masse eines Skeletts abgemagert, über das sich graue, an zahllosen Stellen aufgerissene Totenhaut spannte. Bremer schätzte, daß der Mann zu Lebzeiten an die zwei Meter groß und außergewöhnlich kräftig gewesen sein mußte. Jetzt konnte er kaum noch mehr als fünfzig Kilo wiegen. Wenn es ein Mann gewesen war. Sein Geschlecht war praktisch nicht mehr zu erkennen, obwohl seine gesamte Körperbehaarung verschwunden war. Jemand hatte seine linke Hand entfernt. Wo sie gewesen war, mündete jetzt ein Bündel von Schläuchen, dünnen Rohrleitungen und verschiedenfarbigen Kabeln in seinen Armstumpf, ein komplettes Ver- und Entsorgungssystem, mit dem sein Körper überwacht und gegen seinen Willen dazu gezwungen wurde, am Leben zu bleiben.

Den schrecklichsten Anblick aber bot sein Gesicht. Seine Lippen waren zu einem fürchterlichen Totenkopfgrinsen zurückgewichen, das noch grauenhafter wirkte, weil er so gut wie keine Zähne mehr hatte; Bremer konnte bis weit hinter seinen ausgetrockneten, riesigen Kehlkopf sehen. Die Haut, die sich pergamenttrocken über den Schädelknochen spannte, war über Wangen, Schläfen und Nasenbein gerissen, so daß der kranke Knochen zum Vorschein kam. Seine Augen waren entfernt worden. Unter den eingesunkenen Lidern schlängelten sich zwei durchsichtige Plastikschläuche hervor, in denen eine wasserklare Flüssigkeit zirkulierte.

Und das Allerschlimmste war, daß sich die Brust der ausgemergelten Gestalt in einem ganz flachen, langsamen Rhythmus senkte und hob.

Der Mann lebte! Bremer stand mehrere Minuten lang einfach nur da und starrte in den schwarzen Chromsarg hinab. Er wußte nicht, was er in diesem endlosen Augenblick empfand: Schmerz, Wut, und eine so große, vollkommene Erschütterung, daß Worte nicht mehr ausreichten, um sie zu beschreiben. Er hatte diesen Mann gekannt. Sie waren keine Freunde gewesen, oh nein, ganz gewiß nicht. Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen vor gut fünf Jahren hatten sie mehrmals versucht, einander umzubringen, und keiner von beiden hätte auch nur einen Sekundenbruchteil gezögert, es auch zu tun. Aber kein Mensch, ganz egal, was er getan hatte, kein Mensch hatte ein solches Schicksal verdient. Und es war das gleiche Schicksal, das Braun ihm zugedacht hatte.