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Bremer stöhnte. Seine Hände öffneten und schlossen sich ununterbrochen, ohne daß er es auch nur merkte, und die Wunde in seiner Schulter brach wieder auf und begann zu bluten. Einige einzelne rote Tropfen liefen an seinem Arm hinab und fielen auf Haymars Gesicht herab. Es sah aus, als hätte er blutige Tränen geweint.

Er mußte diese arme, geschundene Kreatur erlösen. Bremer hatte nicht den Mut, die Hände um den Hals des Mannes zu legen und zuzudrücken, was wahrscheinlich die barmherzigste Lösung gewesen wäre, und er wußte auch noch viel weniger, wie man die Maschinen abschaltete, die diesen lebenden Leichnam zwangen, zu atmen und Pein zu ertragen, aber er konnte etwas anderes tun.

Er beugte sich vor, griff nach dem Bündel von Schläuchen und Leitungen, das sich aus Haymars Armstumpf ringelte, und begann einen nach dem anderen zu lösen. Blut und andere, hellere Körperflüssigkeiten tropften auf die goldene Isolierfolie herab, und vielleicht fügte er Haymar auf diese Weise noch größere Schmerzen zu, aber wenn, dann waren sie nur von kurzer Dauer. Sobald er die Verbindung zwischen Mensch und Maschine getrennt hatte, würde der geschundene Körper endgültig aufhören zu funktionieren.

Als er die Hälfte der Kabel- und Schlauchverbindungen gelöst hatte, erschien der Schatten hinter ihm.

Bremer wußte, was er sehen würde, noch bevor er sich herumdrehte und dem Blick der faustgroßen Insektenaugen begegnete, die aus mehr als zwei Metern Höhe auf ihn herabstarrten.

Er las keine Feindseligkeit darin. Da war kein Haß. Keine Wut. Kein Versprechen auf Tod. Sie waren niemals darin gewesen.

Während er dastand und den zwei Meter hohen, geflügelten Koloß anstarrte, begriff er endgültig, wie sehr er sich getäuscht hatte.

Dieses Geschöpf war niemals sein Feind gewesen. Es hatte niemals seinen Tod gewollt. Ganz im Gegenteiclass="underline" Es hatte ihn beschützt, vom ersten Moment an. Selbst dieser Gedanke erschreckte ihn. Die Vorstellung, einen solchen Verbündeten zu haben, war fast mehr, als er ertragen konnte.

Hinter ihm erklang ein gedämpftes Seufzen, gefolgt von einem halblauten, sonderbar weichen Aufprall.

Bremer fuhr herum. Sein erster Blick galt Angela, aber sie war nicht mehr da. Der Platz hinter dem Computer war leer. Dann sah er zu Braun hin.

Und auch er war nicht mehr da. Eine breite, glitzernde Blutspur führte von der Stelle aus, an der er gelegen hatte, zurück ins Labor und verschwand zwischen den Computerpulten, und noch bevor Bremer wirklich begriff, was er da sah, geschahen zwei Dinge praktisch gleichzeitig: Braun richtete sich hinter dem Computerpult auf, hinter dem Angela vor wenigen Minuten gestanden hatte, und der Dämon stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte an Bremer vorbei. Nur den Bruchteil einer Sekunde darauf, prallte er gegen Braun, riß ihn mit sich und schmetterte ihn mit unvorstellbarer Wucht gegen die Tür.

Bremer rannte los, flankte mit einem einzigen Schritt über die Reste der zerbrochenen Scheibe und den blutüberströmten Leichnam dahinter und war mit zwei, drei Schritten hinter dem Pult, hinter dem er Angela das letztemal gesehen hatte. Dabei streifte sein Blick die rote Digitalanzeige auf dem Monitor. Der Countdown war bei 01:07:01 stehengeblieben.

Er erwartete, Angela tot oder schwer verletzt am Boden zu finden, aber sie war nicht da. Bremer fuhr herum, hetzte auf die andere Seite des Tisches, fand sie aber auch dort nicht. Hinter ihm schrie der Dämon, und auch Braun brüllte. Er hörte Schläge, ein fürchterliches Reißen und Splittern, das Geräusch zerbrechender Knochen und splitternden Chitins, sah sich aber nicht einmal nach den Kämpfenden um. Er gönnte Braun jede einzelne Sekunde, die er noch lebte.

Statt dessen flankte er über das Pult und suchte verzweifelt nach Angela. Er fand sie nicht, fuhr abermals herum und blickte hinter jedes Pult, jeden Schreibtisch, aber sie war nicht mehr da.

Hinter ihm erklang ein gellendes, schmerzerfülltes Kreischen, und als Bremer herumfuhr, bot sich ihm ein ganz und gar unglaubliches Bild: Braun und das Ungeheuer rangen mit verzweifelter Kraft miteinander. Die Bestie hatte Braun eine ganze Anzahl grauenhafter Verletzungen zugefügt, von denen jede einzelne hätte tödlich sein müssen, aber der Mann stand seinem höllischen Gegner in Nichts nach. Auch das Ungeheuer wankte. Einer seiner riesigen Flügel war gebrochen und hing nutzlos herab, und sein stahlharter Chitinpanzer war an zahlreichen Stellen unter Brauns Fausthieben gesplittert und geborsten. Die beiden Gegner waren sich nicht wirklich ebenbürtig: Der Mensch würde den Kampf verlieren, das sah Bremer. Aber nur knapp.

Und das war ganz und gar unmöglich. Bremer taumelte fassungslos zurück, prallte gegen ein Instrumentenpult und spürte, wie sein Fuß gegen etwas stieß, das klirrend davonrollte. Er senkte den Blick, sah etwas kleines, Schimmerndes und hob es auf.

Es war eine Spritze. Die Injektionsnadel war nur drei oder vier Zentimeter lang und verbogen, als wäre sie mit großer Kraft in etwas hineingestoßen worden, und in der kleinen Glasphiole in ihrem Inneren glitzerten noch einige Tropfen einer hellen Flüssigkeit.

Bremer wurde klar, was Braun getan hatte. Langsam hob er den Blick und sah zu Braun und dem Dämon hinüber. Braun lag am Boden, der Kampf war so gut wie vorbei, aber auch der geflügelte Koloß taumelte. Braun hatte ihn furchtbar verletzt. Hätte er sterben können, hätte auch er den Kampf nicht überlebt.

Er spürte, wie etwas hinter ihm materialisierte, drehte sich herum, und Angela stand hinter ihm. Braun erkannte sie sofort und ohne den geringsten Zweifel wieder, obwohl das Geschöpf, dem er gegenüberstand, ihr nicht einmal ähnelte.

Es war über zwei Meter groß, strahlendweiß und schien unter einem sanften, inneren Licht zu erglühen. Seine Züge waren die eines Menschen, zugleich aber auch mehr, unendlich viel mehr. Bremer konnte nicht sagen, ob es Mann oder Frau war, Kind oder alt; es wirkte alterslos, nein, mehr: Zeitlos, unbefangenes Kind und uraltes abgeklärtes Wesen zugleich. Sein langes, weißes Haar fiel bis weit über den Rücken herab, und seine gewaltigen Schwingen standen denen des Dämons um nichts nach, waren aber vom gleichen, von innen heraus leuchtenden Weiß wie sein Körper.

»Angela, wie?« fragte Bremer leise. »Ich wußte, daß es ein Witz war.«

»Aber ein guter, das mußt du zugeben«, antwortete er/sie/es. »Immerhin bist du darauf hereingefallen.«

»Warum ... hast du es mir nicht gesagt?« fragte Bremer.

»Ich war gespannt darauf, wie lange du brauchst, bis du von selbst darauf kommst«, antwortete der Engel. »Eigentlich warst du ganz gut - für einen Menschen.«

Bremer war ein wenig irritiert. Schließlich stand er einem Engel gegenüber. Er hätte erwartet, daß ein solches Wesen vollkommen anders war, friedfertiger, durchgeistigter ... und vor allem und auf keinen Fall so kriegerisch. Andererseits - was hätte er erwarten können? Schließlich hatte er dieses Wesen erschaffen. In einem gewissen Sinne.

»Kein Wunder, daß ich mich in dich verliebt habe«, murmelte er. »Ich wußte gar nicht, daß ich so narzißtisch veranlagt bin.«

Der Engel legte den Kopf auf die Seite und sah ihn an. Er schwieg, aber in seinen uralten, weisen Augen glomm ein sanftes Lächeln auf.

Bremer hatte plötzlich das intensive Bedürfnis, ihn zu berühren, aber zugleich wagte er es auch nicht. Er wußte, daß er sterben würde, wenn er es täte. »Haben wir euch erschaffen?« fragte er zögernd. »Haymar und ich?«

»Erschaffen?« Der Engel schwieg einen Moment, als müsse er erst über den Sinn dieser Frage nachdenken, bevor er imstande war, sie zu beantworten. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Nur einer ist imstande, Leben zu erschaffen. Ihr seid nur dazu fähig, es zu zerstören. Obwohl ich zugeben muß, daß ihr gut darin seid.«