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»Ja, aber er kann dir nichts tun, solange du ihn nicht ansiehst. Dreh dich nicht herum. Bitte!«

»Er wird mir nichts antun«, sagte Artner ruhig - sehr viel ruhiger, als er in Wirklichkeit war. Er hatte die Hände fest gegen die Oberschenkel gepreßt, damit sie nicht zitterten, und es fiel ihm immer schwerer, seine Stimme unter Kontrolle zu behalten. Aber es war sehr wichtig, daß er jetzt Stärke zeigte. Wichtig für sie und... ja, und wohl auch für ihn. Arzt, dachte er, heile dich selbst!

»Und er wird auch dir nichts tun«, fuhr er fort, mit leiser, aber sehr fester Stimme. »Du brauchst keine Angst zu haben. Solange ich in deiner Nähe bin, kann dir nichts geschehen. Ich werde es dir beweisen.«

»Nein!« Claudia schrie fast. Sie hatte die Hände halb erhoben, wie um sie vor das Gesicht zu schlagen, die Bewegung aber nicht zu Ende geführt. »Nicht! Sieh ihn nicht an! Sieh ihn nicht an!«

Es war zu spät. Artner lächelte noch einmal das zuversichtlichste Lächeln, das er zustande bringen konnte, und drehte sich dann zur Tür - nicht nur, weil er es Claudia schuldig war, um das Versprechen auf Schutz einzulösen, das er ihr gegeben hatte, sondern auch, und vielleicht sehr viel mehr, weil er sich selbst beweisen mußte, daß er so stark war, wie er tat.

Er war es nicht. Artner saß einfach da und starrte die Tür an, und während er es tat, für die unendliche Dauer einer geschlagenen Minute, war sein Kopf wie leergefegt. Er empfand nichts. Keine Furcht, keine Überraschung, kein Erstaunen, gar nichts. Vielleicht war das, was er in diesem Moment empfand, die absolute Form des Horrors. Ein Entsetzen, das zu tief und zu gewaltig war, um Platz für etwas so Banales wie Erschrecken oder Angst zu lassen, und das etwas in ihm einfach getötet hatte. Schnell, schmerzlos und endgültig. Er saß einfach da und starrte die Tür an, und der einzige halbwegs klare Gedanke, den er hatte, war, daß er nun endlich wußte, woher dieser gummiartige Laut kam.

Es war die Tür.

Sie hatte sich verändert. Was gerade noch massives Metall gewesen war, schien zu einer hauchdünnen weißen Latexhaut geworden zu sein, durch die etwas hindurchwollte. Eine Art... Gestalt... Schemen... Schatten. Er wußte es nicht. Es war groß und schien die Umrisse eines Menschen zu haben, zugleich aber auch die von etwas unsagbar Fremdem - anderem -, das sich jedem Versuch einer Beschreibung entzog.

Dann schlug das Entsetzen doch zu. Warnungslos, schnell und brutal wie ein Axthieb. Artner sprang mit einem keuchenden Schrei in die Höhe und taumelte zurück. Seine Kniekehlen prallten gegen die Bettkante. Er spürte, daß er das Gleichgewicht verlieren würde, kämpfte trotzdem mit wild rudernden Armen dagegen an und beschleunigte seinen Sturz so nur noch mehr. Hilflos fiel er rücklings halb über das Bett, rollte zur Seite und prallte schwer auf den harten Steinboden.

Ein rotglühender Schmerz schoß durch seinen Ellbogen. Artner keuchte vor Pein, rollte aber trotzdem blitzschnell herum und sah zur Tür hoch. Betete, daß das Entsetzen verschwunden und die Tür wieder nichts als eine Tür aus massivem Stahl sein würde.

Sein Gebet verhallte ungehört.

Es war noch da. ER war noch da. Die dünne Membran hatte sich weiter gedehnt, und er erkannte jetzt deutlich die Umrisse eines menschlichen Körpers. Arme, Beine, Schultern und Gesicht, die sich weiter und weiter aus der Tür herausarbeiteten, gegen den zähen Widerstand ankämpften und ihn besiegten. Langsam und unendlich mühevoll, aber auch unaufhaltsam. Die Membran wurde dünner, begann hier und da ihre Farbe zu verlieren und wurde milchig, transparent. Und der schreckliche stumpfe Laut wurde immer intensiver und nahm ihm nun wirklich den Atem. Ein Arm wuchs aus der Tür hervor, eingehüllt in einen gewaltsam geschaffenen Handschuh, der aus der dünnen Latexhaut herausgezerrt wurde, dann ein zweiter, und schließlich...

... wußte er, was es war. Aber die Erkenntnis kam zu spät. Die Membran zerriß mit einem hellen, flappenden Laut, und etwas Schwarzes, Riesiges brach aus der Tür hervor. Etwas mit Flügeln und Klauen, das ganz aus fauligem Fleisch und Blut und Krallen bestand.

Artner kam nicht einmal mehr dazu, einen Schrei auszustoßen. Das Haus der Pein hatte seinen Häscher geschickt, um ihn zu holen und ihn in das wahre Geheimnis dieses Ortes einzuweihen. Doch selbst diesen Gedanken dachte er nicht mehr ganz zu Ende.

Sein Herz setzte aus.

2. Kapitel

»Kamikaze!« Prein schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, als hielte er sie tatsächlich für einen Mitsubishi-Jäger aus dem Zweiten Weltkrieg, den er ersatzweise statt auf einen amerikanischen Flugzeugträger auf den aufgeschlagenen Plastikhefter vor sich herabstürzen ließ. »Genau das ist es, was Sie tun, Sillmann. Wissen Sie eigentlich, was Sie im Begriff sind zu tun, mein lieber Junge?«

»Ich bin nicht Ihr lieber Junge«, antwortete Mark ruhig. »Und ich bin auch nicht hier, um mich mit Ihnen zu streiten, Herr Direktor.« Seine Ruhe wirkte aufgesetzt, das spürte er selbst. Aber sie war es nicht. Er hatte sich auf dieses Gespräch vorbereitet, und die Reaktion, die Prein gerade demonstrierte, war nur eine von mehreren Alternativen, die er vorausgesehen und auf die er sich vorbereitet hatte, seit sehr langer Zeit.

»Bitte - dann meinetwegen Herr Sillmann«, antwortete Prein. Obwohl er die Stimme nur um eine Winzigkeit hob, brachte er es irgendwie fertig, eine Verachtung in die letzten beiden Worte einfließen zu lassen, die Marks Ruhe erschütterte. Vielleicht war es damit doch nicht ganz so weit her, wie er sich selbst eingeredet hatte.

Der Direktor stand auf und flog einen zweiten Kamikaze-Angriff auf den Kunststoffordner, um ihn mit einem Knall zuzuklappen. Der daumendicke Hefter enthielt Marks Schulakte, wie das auf dem Deckblatt eingeklebte Foto eindeutig bewies. Er hatte schon auf dem Tisch gelegen, als er hereingekommen war. Offenbar war er nicht der einzige, der dieses Gespräch vorausgesehen hatte, und vielleicht auch nicht der einzige, der gründlich darauf vorbereitet war. Prein seufzte, rammte die Hände in die Hosentaschen und starrte einen Punkt neben Marks linkem Fuß auf dem Boden an. Er sah sehr aufgebracht aus, aber auch ein wenig müde - was in Anbetracht der Uhrzeit allerdings auch verständlich war. Ein Uhr nachts war seit ein paar Minuten vorbei.

»Also gut«, sagte er. »Versuchen wir es noch einmal in Ruhe.«

»Ich glaube nicht, daß das Sinn hat«, antwortete Mark. »Mein Entschluß steht fest.« Was leider nicht einmal annähernd für seine Stimme galt - sie zitterte jetzt, und Mark verfluchte sich in Gedanken dafür. Und noch einmal, als ihm klar wurde, daß er die Hände fest um die Armlehnen des Sessels gekrallt hatte. Der Verrat, den er seinen Worten verboten hatte, wurde von seiner Körpersprache begangen. Hastig löste er seinen Griff, und selbstverständlich blieb auch das Prein nicht verborgen. Fehler Nummer drei - aber wahrscheinlich eher Nummer dreißig.

Mark hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Er hatte sich so gut auf dieses Gespräch vorbereitet. Seit Wochen hatte seine Lieblingsbeschäftigung darin bestanden, genau diese Szene immer und immer wieder in Gedanken durchzuspielen, in allen möglichen Variationen und natürlich immer mit dem gleichen Ende: einem, in dem er nicht nur als Gewinner, sondern auch eindeutig als Sieger aus diesem Büro herausmarschieren würde. Er hatte die besseren Karten. Er hatte das Recht auf seiner Seite: juristisch, und moralisch noch viel mehr. Und trotzdem hatte er immer mehr das Gefühl, den Kampf bereits verloren zu haben, noch bevor er eigentlich richtig begonnen hatte. Im Grunde hatte der Direktor ihm mit einer Winzigkeit den Wind aus den Segeln genommen - mit der aufgeschlagenen Akte, die auf seinem Tisch gelegen hatte, als Mark hereinkam. Sie machte jede Erklärung überflüssig. Prein hatte ebenso gewußt wie er, daß dieses Gespräch kommen würde, und auch, wann. Und er hatte es wahrscheinlich gar nicht nötig, sich darauf vorzubereiten.