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»Ihr Entschluß steht also fest.« Prein schüttelte den Kopf, ging zu seinem Tisch zurück und ließ sich in den zerkratzten Ledersessel auf der anderen Seite fallen, daß das altersschwache Möbelstück ächzte. »Und das vermutlich seit Monaten. Seit... nicht ganz einem Jahr. Stimmt's?«

Mark war ziemlich überrascht, aber er versuchte, es sich wenigstens nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, und änderte nur seine Taktik, sofern er jemals eine gehabt hatte. Die Idee, einen großen Abgang zu inszenieren, sich sechs Jahre Frust und Zorn, sechs Jahre heruntergeschluckte Wut und pubertäre Rachephantasien in einer einzigen großen Szene von der Seele zu reden und mit Donnerhall und Wetterleuchten abzutreten, war hübsch als Idee, aber mehr auch nicht. Er würde einfach aufstehen und gehen. Jetzt. Er stand auf, und Prein sagte ganz ruhig und auf eine Art, die es Mark einfach unmöglich machte, nicht zu gehorchen: »Bitte setzen Sie sich wieder.«

»Herr Direktor, bitte«, sagte er. »Es hat wirklich keinen Sinn. Sie verschwenden nur Ihre Zeit, wenn Sie versuchen, mich umzustimmen.«

»Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Prein. »Ich habe schon seit einer geraumen Weile gewußt, was Sie vorhaben.«

»Woher?« fragte Mark.

Prein lächelte. »Niemand hat Sie verraten, wenn es das ist, was Sie glauben«, sagte er. »Ich bin der Direktor dieses Internats. Der Oberquälgeist. Glauben Sie wirklich, irgendeiner Ihrer Kameraden würde dem Statthalter Luzifers auf Erden ein Geheimnis anvertrauen?«

Mark blieb ernst. »Woher wissen Sie es dann?«

»Sie sind nicht der erste, der an seinem achtzehnten Geburtstag zu mir kommt, um genau das zu tun, was Sie vorgehabt haben: mir einmal richtig die Meinung zu sagen. Mir ins Gesicht zu sagen, was Sie von mir persönlich und diesem ganzen Scheißladen hier halten, und mir zumindest rhetorisch den Schreibtisch umzuwerfen. Das hatten Sie doch vor, öder?«

Mark machte nicht einmal den Versuch, seine Überraschung zu verbergen. Gut, dann konnte Prein eben Gedanken lesen. Das änderte auch nichts mehr.

»Wenn es Sie beruhigt«, fuhr Prein fort, als er einsah, daß Mark nicht antworten würde, »keiner hat es bisher getan. Jedenfalls ist keiner bisher damit durchgekommen. Ein paar sind frech geworden, aber die meisten sind am Ende einfach wieder gegangen - übrigens zum Großteil zurück auf ihr Zimmer, nicht zum Bahnhof.«

»Ich werde nicht auf mein Zimmer gehen«, sagte Mark.

Prein deutete ein Achselzucken an und sah auf die Uhr. »Sie wollen den Nachtzug nehmen, richtig? Dann haben wir noch etwas Zeit.«

Dieser Meinung war Mark eigentlich ganz und gar nicht. Es war beinahe Viertel nach eins, und er mußte sich im Gegenteil sputen, um noch rechtzeitig am Bahnhof zu sein. Allen Unkenrufen zum Trotz fuhr die Bundesbahn nämlich meistens doch pünktlich, und nachts eigentlich immer.

»Ich fahre Sie zum Bahnhof, wenn Sie möchten«, sagte Prein.

»Sie?«

»Ich kann Auto fahren«, versicherte ihm Prein. »Sie wissen doch - diese Dinger mit vier Rädern, zwei Türen und einem Lenkrad vorne links.«

Mark begann sich allmählich zu fragen, ob Preins Humor wirklich echt war oder nur Bestandteil seiner Taktik, ihn einzuseifen. Wenn es ums Einseifen ging, war er gut.

»Ich dachte eigentlich, daß Sie mich dazu überreden wollen, hierzubleiben.«

»Natürlich will ich das«, gestand Prein gelassen. »Aber überreden bedeutet nicht zwingen. Geben Sie mir die Chance? Bestenfalls gelingt es mir, und wenn nicht - nun, dann sind Sie bequemer und schneller zum Bahnhof gekommen als zu Fuß. Übrigens auch trockener.«

Warum eigentlich nicht? dachte Mark. Er durchschaute Preins Falle sofort, aber dummerweise war es eine von der Art, die man ruhig erkennen konnte - man tappte trotzdem hinein. Seine guten Vorsätze und der sorgsam kultivierte Zorn, den er mit in dieses Gespräch gebracht hatte, richteten sich nun gegen ihn. Er konnte die Bitte des Direktors kaum ausschlagen, ohne vollends das Gesicht zu verlieren. Und so ganz nebenbei - Prein hatte recht: Der Weg zum Bahnhof war weit, und es war verdammt kalt draußen. Widerwillig nickte er.

»Dann lassen Sie uns gehen.« Prein stand auf, verstaute mit einer schwungvollen Bewegung Marks Schulakte in der Schreibtischschublade und zog im Hinausgehen die Jacke an, die an einem Haken neben der Tür hing. Kein Zweifel - er war gut vorbereitet gewesen. Wesentlich besser als Mark.

Sie redeten nicht, während sie die zwei Treppen in die Haupthalle hinuntergingen. Die Nacht hatte das Internat fest in ihrem Griff, auf den Fluren brannten nur die blassen Lichter der Nachtbeleuchtung, die die Proportionen der Dinge verzerrten und das Gleichgewicht von Licht und Schatten vertauschten. Und eine eigentümliche Stille schien von dem ganzen weitläufigen Gebäude Besitz ergriffen zu haben; ein Schweigen, wie Mark es hier selten erlebt hatte - und er war hier nicht das erste Mal mitten in der Nacht unterwegs.

Wahrscheinlich lag es an ihm. Nichts hier hatte sich verändert. Nicht wirklich. Er war es. Es war das unwiderruflich letzte Mal, daß er diesen Weg ging, und Mark mußte sich zu seiner eigenen Überraschung eingestehen, daß er so etwas wie Wehmut empfand. Er hatte das Internat und alles, was damit zu tun hatte, gehaßt. Vom ersten Tag an, an dem er hier angekommen war, und jedem, der ihm gefolgt war. Aber plötzlich konnte er das nicht mehr. Trotz allem war dieses Internat seine Heimat, viel mehr, als ihm bisher bewußt gewesen war. Er hatte ein Drittel seines Lebens hier verbracht - eigentlich sogar weit mehr als die Hälfte, wenn er nur jenen Teil berücksichtigte, an den er sich wirklich erinnerte -, und eine solche Zeit ging nicht spurlos vorüber. Jeder Zentimeter hier war ihm vertraut, viel mehr als sein eigenes Elternhaus, das er in den letzten sechs Jahren nur viermal gesehen hatte. Er kannte jeden Schritt, er wußte, was hinter jeder Tür lag, welche Gesichter, welche Geräusche und welche Gerüche ihn erwarteten, und er empfand tatsächlich so etwas wie einen Abschiedsschmerz, der wahrscheinlich sogar noch viel intensiver gewesen wäre, hätte er sich nicht mit aller Macht dagegen gewehrt. Das Gefühl war sehr intensiv, doch er kämpfte es mit großer Willensanstrengung nieder. Später, wenn er in der Bahn saß und es kein Zurück mehr gab, konnte er sich dem großen Katzenjammer hingeben.

Sein Gepäck stand in einem Winkel neben der Tür, der vom Licht der Notbeleuchtung ausgelassen wurde. Manchmal machte der Hausmeister nachts noch eine Runde, und Mark hatte nicht das Risiko eingehen wollen, womöglich zurückzugehen und an seine Tür hämmern zu müssen, falls er die beiden Koffer und die Reisetasche fand und etwa mitnahm. Prein zog die linke Augenbraue hoch, als er Marks Fluchtvorbereitungen sah, doch sein Kommentar beschränkte sich auf ein wissendes Lächeln. Wortlos griff er in die Jackentasche, nahm den Hauptschlüssel heraus und öffnete die Tür. Ein weiterer Pluspunkt für ihn und ein weiterer Minuspunkt für Marks Planung. Er hatte vorgehabt, durch ein Fenster zu steigen. Nicht besonders gefährlich, aber unbequem, und ganz gewiß nicht das, was man sich unter einem großen Abgang vorzustellen hatte.

Dicht hinter dem Direktor verließ er das Gebäude und erlebte die nächste Überraschung, als er Preins Wagen nur wenige Meter neben der Tür geparkt sah. »Sie hätten mir sagen können, daß Sie Gedanken lesen können«, sagte er. »Das hätte mir in den letzten Jahren wahrscheinlich eine Menge Ärger erspart.«

Prein lachte. »Aber das ist Grundvoraussetzung für meinen Job«, sagte er. »Wenn man nicht telepathisch veranlagt ist, wird man gar nicht erst eingestellt - wußten Sie das etwa nicht?« Er öffnete den Kofferraum, wartete, bis Mark sein Gepäck hineingelegt hatte, und warf den Deckel dann so schwungvoll zu, daß Mark hastig die Hand zurückziehen mußte.