Hinunter! Aber... Nach dem Kodex der Zeitreisenden durfte man am chrononauti sehen Instrumentarium nur hantieren, wenn kein Zeuge aus der Fremdzeit zugegen war. Er pflegte zu solchen Nächten den Sklavinnen ein harmloses Schlafmittel in den abendlichen prophylaktischen Multivitamintrank zu mischen. Doch jede Sekunde war kostbar... Kurz entschlossen zerrte er die Halskette aus dem Gewand, löste den Steckschlüssel und schloß auf. Rauchwasen quoll ihm entgegen.
Lydia schrie auf. »Ich hole Wasser!«
»Schaff lieber Licht, ich muß hinunter, nachschauen!«
Mechanisch langte sie eine Öllampe vom Postament und reichte sie ihm.
Rabirius blieb hustend auf der ersten Stufe stehen. Was kann glimmen? Es gibt doch nichts Brennbares... Er tappte hinunter, hustete wieder, orientierte sich mühsam.
Die Truhe!
Äußerlich war sie unbeschädigt, aber bei der Berührung zuckte er zurück. Glühend heiß! Die elektronischen Geräte...!
Zweifellos zerstört, alles hin: der Chronograph, die Medikamentenpakete, der Strategieanalysator, die Handbibliothek zum Nachschlagen.
Wie das? Sollte etwa... ? Nur zu rasch begriff er. »Ein Narr bist du, Jose, ein Idiot! Aus, aus ist es mit dir!«
Astris und Lydia schauten sich fragend an. Was meinte der Herr? Welch seltsamer Name! Was für eine Truhe war das? Warum hielt er sie vor ihnen verborgen? Was schwelte? Nirgends war eine Flamme zu sehen.
Wie abwesend murmelte Rabirius: »Natürlich, Sprengpatronen in der Ausrüstung von Salmo per Funk ausgelöst, als er den Knöpf drückte auf daß nichts zurückbleibt jeden Hinweis auslöschen. Daß jemand seinen Notsprunggeber verborgt, berücksichtigte keine Planung. Hätte ich nur vorher rückgefragt! Aber die Zeit war ja zu knapp... Dieser Schurke Faustus!«
Und nun? Weder Kontakt noch Informationsaustausch mit seiner Zeit. Abgeschnitten, unauffindbar, schiffbrüchig wie Salmo. Verschollen im Römischen Imperium.
»Herr, komm hoch! Der Rauch!«
Er versuchte das Kombinationsschloß der Truhe zu betätigen. Das Metall versengte ihm die Haut, doch der Mechanismus versagte. Und die Ausrüstung oben am Quellwasserschloß? Rabirius hätte um all sein Geld gewettet, daß auch sie wertlos geworden war, ausgeglühtes Metall. Er stapfte zur Treppe und verließ den Keller. »Keine Gefahr mehr, ein Eimer Wasser genügt. Der Inhalt ist hinüber«, sagte er tonlos.
Sie schwiegen. Sein Gesicht ließ es ihnen nicht geraten erscheinen, ihn zu fragen.
»Morgen gehe ich in den Wald hinauf. Falls sich bestätigt, was ich vermute dann... bleiben wir lange beisammen. Auf Dauer, vielleicht.«
Die beiden unterdrückten eine Reaktion. Nach einer Weile sahen sie sich forschend an. Wenn der Herr es so sagte, konnte das gar heißen, daß er eine von ihnen... Bislang hatte er sie abwechselnd auf seinem Lager gehabt. Gedachte er ernstlich, das Heißersehnte zu tun? Statt Sklavin Herrin...
Rabirius bemerkte nichts davon. Er rang um Klarheit. Es war eins, als Gast im Altertum zu weilen, hundert Hilfsmittel und den Notrücksprunggeber in der Tasche; etwas ganz anderes aber, hierher verbannt zu sein. Da stellte sich trotz der Wissenschaft der Zukunft alles anders dar.
Hätte er das vorausgesehen, er würde... Rabirius war ehrlich, er hätte Salmo geopfert. Aber es war nun einmal geschehen. Es galt, sich auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte einzurichten. Einerseits mußte er fortan wirklich Servius Rabirius sein, der Architekt aus dem fernen Rom, andererseits aber keine Spur in der Zeit hinterlassen. Das hieß, sich zwischen Scylla und Charybdis halten, bis man ihn holte. Wann würde das sein? Und wenn nie?
Das Geheimnis enthüllen? Sinnlos. Niemand verstände ihn, man konnte seine Mission als Hochstapelei bezeichnen und ihn schwer bestrafen; falls man ihm aber glaubte, veränderte sich die Geschichte radikal und schnitt ihn rettungslos ab. Er selbst hatte den Vergleich mit der Lawine gebraucht. Wie die alternative Römische Geschichte und ihre Folgen verliefen, wußte niemand naturgemäß ganz anders. Blieb sie unberührt, hatte er noch eine Chance. Vielleicht nur ein Prozent. Doch immerhin ein Prozent!
Gut, daß er den Brückenbauauftrag hatte. Auf ihn mußte er sich stützen, damit es weiterging. Doch keine wunderwirkenden Medikamente schirmten ihn mehr. Wenn er mit den Mädchen schlief, konnten jetzt Kinder gezeugt werden, die im Mosaik der Zeit keinen Platz hatten. Brach er damit die Chronologik? Oder war der Eingriff vernachlässigbar und verlief sich in der Zeit?
»Geht schlafen, ihr beiden«, sagte er. »Ein Weg wird sich öffnen... ein neuer Kurs.«
Er sprach nicht zu Ende. Plötzlich stand ihm das Bild vor Augen, das er dem Centurio ausgemalt hatte: Schiffe, die sich
im Nebel begegnen und auf Nimmerwiedersehen weiterdriften. Und die Kapitäne, die aus dem Treff ihre Schlüsse ziehen und die Kurse ändern.
Die vierte Tür
1
Waffenrasseln und lustige Rufe weckten Agrast.
Er erschrak es war bereits taghell! Wo befand er sich? Daheim in Cingaar? Nein, dieses mit Blauholz getäfelte Zimmer war fremd und überhaupt viel aufwendiger eingerichtet als seine Wohnung. Dann tauchte die Erinnerung auf: der geheimnisvolle Königsbefehl die rastlose neunwöchige Reise durch das Rote Gebirge gestern abend die schwarzen Mauern die Diener, die ihn führten... Er war Gast im Stadtschloß von Anche.
Agrast stand auf, wusch sich in einem Steinguttrog, band den Schurz um, warf den Mantel über und blickte aus dem Fenster. Die große purpurne Sonne goß einen blutigen Schein über Mauern und Dächer. Weil noch Sommer herrschte, strahlte die kleinere weiße Sonne tagsüber, anstatt die Nachtfinsternis zu mildern. Obgleich die Augen schmerzten, wenn man sie ansah, wurde es in ihren Winternächten kaum hell. In der heißen Jahreszeit aber vereinigten sich beider Strahlen, und wie häufig zog sich zwischen ihnen ein rosa getönter Bogen über den Himmel. Es galt als gutes Omen, ihn morgens zu sehen.
Unten auf dem Hof übten girenische Soldaten das Fechten. Sie warfen die Eisenklinge von der rechten Hand in die linke, um den Partner zu täuschen, wechselten die Schildpfote, stießen vor und wichen aus, elegant, als wäre es ein Spiel. Einige blutende Schnitte verrieten dem Beobachter indes, daß sie keine stumpfen Waffen benutzten.
Hinter ihm gab es ein Geräusch. Agrast fuhr herum.
Ein Diener verneigte sich mit gekreuzten Händen und Pfoten. »Gnädiger Herr, der Fürststatthalter geruht, dich zu empfangen. Herr Yalmiron wünscht dein Erscheinen, um dich zu führen.«
»Ich komme.« Vorzubereiten war wenig: Er kämmte sich den seidigen Pelz, prüfte den Sitz seiner Kleidung und steckte die Kupferspange an den Mantel, die ihn als freien Girener auswies. Dann verließ er das Gemach.
Vor der Tür wartete Hauptmann Yalmiron, der Führer seiner Eskorte, grüßte lässig und geleitete ihn. Das geschah nicht nur der Sitte halber. Im Schloß von Anche konnte sich ein Uneingeweihter verirren, so weiträumig und verschachtelt war es. Viele Generationen hatten mitgebaut; düstere Korridore folgten auf offene Kolonnaden, überall zweigten Zimmertüren und Seitengänge ab. Manchmal verwehrten ihnen gerüstete Wachen den Weg, Kampfschwerter in den Händen, eisenbeschlagene Schilde in den Pfoten. Dann sagte Yalmiron leise: »Gire für immer!«, und man ließ sie passieren.
Agrast fühlte sich unwohl. Zumal das Unbegreifliche der Reise bereitete ihm Sorgen. Zwar hatte man ihm zwei Packtiere gestellt, aber niemand antwortete unterwegs auf seine Fragen. Die zwölf Gardisten konnten oder wollten nichts verraten. Aber wußte nicht einmal der schweigsame Führer des Trupps, der dunkelpelzige Yalmiron, warum man monatelang ritt um einen einzelnen Mann nach Anche zu holen?
Wieder eine Wache. Diesmal trugen die Krieger den ganzen Körper schirmende Holzpanzer und erzene Helme. Der Thronsaal konnte nicht mehr weit sein. Auf die Losung hin glitten die Schwerter in die Scheiden zurück, die Tür öffnete sich. Aber hinter ihr erstreckte sich kein Saal. Sie traten ins Freie, in einen der vielen Innenhöfe des Palastes. Blumenbeete bedeckten den Boden und rahmten einen Weiher. Auf einer Marmorbank, flankiert von zwei alten Flammenbäumen, der eine grüngolden, der andere grünsilbern, saß Girenui, allein.