Agrast blieb stehen, neigte sich, bis auch seine Pfoten den Boden berührten. »Ewiger Ruhm dem siegreichen Sohn des Königs!«
Der Offizier neben ihm salutierte stumm.
»Es ist gut. Kommt näher und setzt euch!«
Diener stürzten heran und brachten zwei Hocker. Auf einem nahm Agrast Platz, auf dem anderen Yalmiron.
Der Regent flüsterte einem Bedienten etwas zu, worauf sich dieser eilig entfernte. »Hat dir die lange Reise geschadet? Bist du krank?« wandte er sich an den Gast.
»Es geht mir gut, Hoheit«, versetzte Agrast vorsichtig. Daß Girenui wenig vom Hofzeremoniell hielt, war ihm bekannt; der Prinz, unter Kriegern groß geworden, konnte sich schwerlich im prunkvollen Palast von Anche wohlfühlen. Aber der Anlaß der Reise?
»Du hast sicherlich gefragt, warum ich meinen königlichen Vater ersuchte, dich mir zu schicken. Yalmiron durfte es dir nicht sagen; aber ich denke, du wirst ordentliche Arbeit leisten, wenn du die Wahrheit weißt. Im Heer halte ich das auch so. Ich will keine lange Rede über Krieg und Sieg halten, die uns hierher führten. Begnügen wir uns mit dem Resultat. Das Land Anche-Tez ist besiegt, seine Hauptstadt in unserer Hand, der schändliche Überfall somit gesühnt... Man nennt dich den Weisesten von Gire-Tez. Mal hören, was davon zutrifft. Warum ist diese Region so berühmt?« Er beschrieb einen Kreis in der Luft.
»Hoheit, es ist ein fruchtbares Tiefland zwischen den Kristallfelsen im Norden, dem Roten Gebirge im Osten und dem Meer im Süden und Westen; nie verheeren es die Schneestürme, die uns so zausen, nie sengen die Sonnen über das Maß... Die Rede geht, daß die Götter selbst wegen des Fleißes und der Demut seiner Bewohner ewigen Segen über Anche-Tez sprachen, bevor sie im Feuer gen Himmel brausten. Die hauptstädtischen Tempel gelten als ein Hort der Weisheit. Alle girenischen Hohenpriester erlangten hier ihre Weihen. Einem Heiligtum wird etwas Besonderes, fast Unglaubliches nachgesagt. Unter anderem deshalb plante auch ich eine Reise her, hatte allerdings bislang keine Möglichkeit, sie auszuführen...«
»So daß du mir unendlich dankbar bist, weil ich sie dir bot«, vollendete Girenui lachend. »Natürlich bewog mich eigenes Interesse. Es hängt in der Tat mit der Tempelstadt zusammen. Sie ist in meiner Hand. Weil die Priesterschaft einen Meuchelmord versuchte, habe ich hart durchgegriffen. Beim Durchsuchen stießen meine Leute auf den Tempel des Feuerstrahls. Ist er das Heiligtum, das du meintest?«
»Ebender, Erhabener.«
»Was hast du von ihm gehört?«
»Nichts Genaues, Hoheit; Legenden.«
»Begreiflich. Er ist etwas Besonderes. Gleich wird der Priester Thulmir hier sein und es erklären. Du beherrschst doch die Landessprache?«
»Selbstverständlich, Hoheit, das alte und das gegenwärtige Anchische.«
»Desto besser. Ah, da ist er!«
Zwei Leibwächter führten einen Langgewandeten herein. Das grauweiße Kleid kennzeichnete den Priester, der silberne Halsring den mittleren Rang, und der schüttere, verblaßte Pelz verriet, daß er auf die Fortpflanzung verzichtet hatte. Er grüßte unterwürfig und stumm.
»Höre, Thulmir! Dieser Mann ist der weise Agrast. Er erhielt von mir den Auftrag, festzustellen, was sich in deinem Tempel befindet. Du und die Deinen haben mir nur Rauch und Nebel vorgeführt, jetzt soll die Wahrheit ans Licht der göttlichen Sonnengeschwister. Ich bin Krieger, er ist ein Gelehrter, klug genug für eine Priesterweihe. Seinen Anweisungen ist zu folgen wie den meinen. Erfahre ich, daß du ihm zuwiderhandelst, lasse ich dich in der ewigen Nacht der Erzhöhlen von Shingada zugrunde gehen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Der Priester schlug die Augen nieder und verbeugte sich, bis alle sechs Extremitäten auf dem Boden lagen. »Deine und seine Befehle sollen befolgt werden, Hoheit. Aber ich schwöre, daß wir wirklich nur die ersten drei Zimmer...«
»Agrast wird das untersuchen. Hauptmann Yalmiron, du bürgst dafür, daßmeinem Beauftragten kein Haar gekrümmt wird.«
»Wie du befiehlst, Hoheit!«
»Hast du noch eine Frage, Agrast? Oder eine Bitte? Du bewohnst die Zimmer im Palast. Was du begehrst, wird von meinem Hofstaat beschafft aber ebne mir den Weg in diesen
Tempel!«
Der Erhobene rang um Worte. Hätte man ihm die Statthalterschaft des eroberten Landes Anche-Tez angeboten, er wäre weniger verstört gewesen. Langsam aber erwachte sein nüchterner Verstand, und die ersten Fragen keimten. Wieso war es schwierig, in einen Tempel zu gelangen? Wenn das Tor nicht nachgab schlimmstenfalls stieß man die Mauer ein. Ein Krieger wußte das am besten. Was meinte der Priester Thulmir damit, daß man nur drei Zimmer betreten könne?
»Ich will tun, was ich kann«, sagte er fast abwesend.
Der Königssohn schaute ihn aus seinen hellen Augen prüfend an. Daß die obligatorische Anrede fehlte, nahm er nicht übel; galt es ihm doch als Zeichen dafür, daß der berühmte Mann seine Arbeit aufgenommen hatte. Soviel war Girenui als einem guten Feldherm klar: Wer Tempel so versiegeln konnte, daß niemand hineinkam, besaß große Kraft. Seine Belagerungstechniker waren gescheitert, es bedurfte eines Weisen. Die anchische Priesterschaft betete das Heiligtum an und würde mit keinem Finger daran rühren. Demnach waren die girenisehen Weisen, ohnehin in aller Welt als ungläubig verschrien, die geeignetsten Leute, um das Rätselschloß zu entriegeln.
Was man hinter den Mauern finden würde, stand in den Sternen. Nach Girenuis Vermutung konnte es nur nützlich sein. Rezepturen für die Erzschmiede oder Ratschläge für die Architekten oder Geheimnisse für die Kriegsführung. Als gewiß war, daß es mit dem Tempel eine seltsame Bewandtnis hatte, hatte der Fürststatthalter sämtliche Berater der Reihe nach befragt. Schließlich verwies einer auf den weisen Agrast. Die einen behaupteten, daß er alles Technische beherrsche; und daß andere ihn der todwürdigen Götterverleugnung ziehen, empfahl ihn eher. Tags darauf brach Yalmiron mit zwölf berittenen Gardekriegem auf, um aus dem abgelegenen Cingaar in der südlichsten Provinz von Gire-Tez den Weisen nach Anche zu holen.
»Ich wünsche dir Erfolg, Agrast«, sagte der Prinz bedächtig. »Mein Lohn wird sogar dich erstaunen, denn in solchen Dingen bin ich nicht kleinlich.« Mit einer Geste beider Hände beendete er die Audienz.
2
Seit dem niedergekämpften Aufstand nahmen gelangweilte girenische Krieger die Stelle der Priestergarde am festungsartigen Tor zur Tempelstadt ein. Vor Hauptmann Yalmiron salutierten die Posten. Niemand hielt die drei auf, niemand stellte Fragen.
Hinter dem Tor boten sich mehrere Richtungen an. Thulmir kannte sich aus und führte. Der Weg, von hohen Glasurziegelmauern gesäumt, führte manchmal durch einen schlecht beleuchteten Tunnel, dann wieder folgten öde Straßenpassagen. Kein Fenster öffnete sich auf diese Gasse. Selten begegneten
ihnen Priester unterer Grade, nur einmal einer mit dem silbernen Halsring.
Unterwegs blieb Agrast still. Wohl interessierten ihn hundert Dinge; aber solange man nicht wußte, was überhaupt zu fragen war, tat der am klügsten, der nichts fragte. Die Philosophenschule Enistras hatte ihn das gelehrt. Die Schweigsamkeit seiner beiden Begleiter entstammte dagegen verschiedenen Quellen. Ein Soldat redete nicht über geheime Angelegenheiten; den Priester verdroß es, einen Girener ins Vertrauen ziehen zu müssen. Auch fürchtete er um sein Amt. Er hielt Agrast für den ausersehenen Hohenpriester.