Ein unvermuteter Knick des Wegs führte auf einen großen vieleckigen Platz. Agrast vermochte einen Aufschrei nicht zu unterdrücken.
Der Ursprung aller Legenden und Gerüchte hier war er. Der Tempel des Feuerstrahls sah aus wie eine feurige Säule. Das Gebäude war rund, etwa acht Schritte im Durchmesser und dreimal so hoch; augenscheinlich war es fensterlos. Das Merkwürdigste: Der Bau schimmerte im doppelten Sonnen licht und warf rötliche, metallische Reflexe, als wenn er eine lebende Flamme wäre. Bei allen Geistern, an denen Enistra zweifelte hatte der Architekt das Haus mit Eisen überzogen? Welch absurde Idee! Und die Mauern wölbten sich zu einer halbkugeligen Kuppel. Niemand baute so. Gerade Agrast wußte das, weil er manche Nacht über Berechnungen vergrübelt hatte, wie man ein ideales Rundgewölbe bauen könne. In den Annalen stand nichts, und etwas Vernünftiges war ihm bisher nicht eingefallen. Nur soviel wußte er: Es mußte möglich sein. Freilich stand dahin, ob sich unter dem Äußeren auch ein gleichgeformter Hohlraum befand. Doch warum nicht?
Agrast schaute seine Begleiter an. Beide nickten, als wäre noch zweifelhaft gewesen, ob man dem sagenumwobenen Tempel des Feuerstrahls gegenüb erstand.
Wie schlafwandelnd näherte sich der Weise der Mauer, berührte zögernd das glatte Metall. Es faßte sich an wie ein eiserner Gegenstand. Wenn man die Situation indes recht bedachte Eisen konnte das keinesfalls sein. Alle Welt wußte: Rost erschien schon nach Tagen, zumal nach regnerischen, sofern man ihn nicht mit Fett und Wachs abschreckte. Von solchem Schutz war nichts zu bemerken, dennoch befleckte keine rotbraune Spur die Glätte. Was für titanische Platten! Doch wie befestigt? Agrast tastete, suchte einen Rand und Nieten, da er auf den ersten Blick nichts sah. Wie gut die Kanten auch zugepaßt wurden... Da, etwas wie eine Narbe zog sich durch das mattgraue Metall. Man mußte allerdings äußerst scharf hinschauen, um sie überhaupt zu finden.
Welcher Meister hatte das gemacht? Jedenfalls kein Girener. Die Leute von Anche mußten großartige Schmiede sein. Solche Platten zu hämmern und zu verbinden! Es barg ungeheure Schwierigkeiten, gebrochene Schwertklingen zusammenzuschmieden, meist brachen sie an derselben Stelle aufs neue. »Ein begnadeter Baumeister und eine Gilde hochrangiger Techniker...«
Agrast wurde sich der Anwesenheit der beiden anderen bewußt und drehte sich um. »Thulmir, sprich: Wann und von wem wurde dieser Tempel errichtet?«
»Sollten wir nicht in das Opferhaus gehen, Herr?« versetzte der Priester. »Es wird ein Weilchen dauern.«
»Das stimmt auch wieder. Eins vorweg, Hauptmann: Soviel ich vom Eisen verstehe, müßte man auch die dickste Platte mit einiger Geduld durchbohren können. Hat das niemand versucht?«
Ehe Yalmiron antworten konnte, lachte Thulmir auf. »Ihr Girener seid doch alle gleich! Der Oberst, der beim Sturm hierherkam, sagte wörtlich dasselbe; aber als er dann auf prinzlichen Befehl die Mauer niederlegen sollte, scheiterte jeder
Versuch. Schau bitte dort hinauf, von uns aus links da, wo die Kuppel in die senkrechte Wand übergeht! Siehst du die Vertiefung?«
Der Weise strengte seine Augen an. Ohne den Hinweis wäre ihm die Beule entgangen. Auch so war sie kaum zu bemerken. Er wählte einen anderen Standort. Jetzt verstärkten die purpurnen Reflexe des doppelfarbigen Sonnenlichts den Effekt. »Ich sehe sie.«
»Zur Zeit der Elften Dynastie fiel ein faustgroßer brennender Stein vom Himmel zufällig dagegen. Diese Spur blieb zurück. Du weißt, mit welch verheerender Wucht diese Stemstückchen niederstürzen. Wenn selbst er nur eine Delle schlug...«
»... schaffen unsere Bohrer überhaupt nichts«, vollendete Agrast leise. Eisen, das nicht rostete, mußte unvorstellbar fest und hart sein. Der prinzliche Auftrag erhielt Farbe. Es war so, wie Enistra mehr als einmal erklärte: Eine beantwortete Frage gebiert zwei neue, schwierigere. »Gehen wir!«
Sie betraten das Tempelhaus, durchquerten einige Räume, deren Ödnis noch Spuren der plündernden Girener aufwies, und gelangten in die Bibliothek. Hier gab es für Soldaten nichts zu holen, und bis auf wenige reparierte Regale war alles beim alten geblieben. Agrast bestaunte insgeheim den reichen Bestand an Schrifttafeln.
Thulmir bot mit der Souveränität des Hausherrn Platz an, klatschte in die Pfoten und hieß einen Diener, Getränke und einen Imbiß bringen. Nach dem obligatorischen Trankopfer für die Unsichtbaren hob er an.
»Tag und Nacht sollte man dem Tempel des Feuerstrahls Ehrfurcht erweisen, so unvergleichlich ist das ihm innewohnende Geheimnis. Selbst ich Unwürdiger habe es gespürt... Aber alles wächst aus dem Anfang. Ich werde ihn euch vorlesen.«
Von einem kerzengeschmückten Tischchen nahm er mehrere Steinplatten.
»Es begab sich zur Zeit der Dritten Dynastie von Anche. Weithin wurde König Ancheker als edel, stark und fromm gepriesen; und die Diener der Götter rieten ihm gut. In einer klaren Sommernacht erhörten die Unsterblichen die inbrünstigen Gebete und stiegen unter Rauch und Feuer herab, um zu sehen, ob ihre Geschöpfe der Gnade würdig seien. Sie ließen sich auf einem Felsplateau neben der Königsburg nieder. Ein Jahr lang stärkten sie die Macht des Herrschers über AncheTez und lehrten seine Priester Weisheit. Zuletzt prüften sie den Glauben der Eingeweihten und ihre Demut und befanden sie für würdig. Tags darauf sprachen die Unsterblichen den ewigen Segen über Anche und das gesamte Land Anche-Tez. Während sie als lodernder Feuerstrahl in den Himmel heimkehrten, erstand dieser eiserne Bau zur Mahnung und zur Lehre stark wie die Macht der Götter und nur vom Weisesten und Demütigsten zu bezwingen. Thaljamir, dem ersten Hohepriester dieses Tempels, wurde ein Orakel zuteiclass="underline" >Wer im innersten Raum steht, wird sein wie wir.<
Die Sonnen zogen über den Himmel, die Jahre verstrichen, die Könige und Dynastien wechselten auf dem Thron von Anche ab. Die Priester beteten und lernten, antworteten und fragten. Bis zum heutigen Tag gelang es aber keinem, weiter als bis ins dritte Zimmer vorzudringen. Weit ist der Weg noch, und es mag sein, daß manche ermüdeten. Andere vergaßen über dem Wohlleben das Ziel. Weil aber der treue Dienst an den Göttern das Erste ist, erlahmte die Herrschaft unter der Achtzehnten Dynastie. Der unglückliche Krieg des Königs Ancheliss gegen die Girener...« Thulmir beendete den Satz nicht, weil ihm bewußt wurde, wer vor ihm saß. In Yalmirons Miene wetterleuchtete es bereits. Agrast dagegen schien kaum beeindruckt. Eine Weile war es still.
»Leider habe ich dich zur kleineren Hälfte verstanden, wie man bei uns sagt. Solche bunten Legenden schmücken jede Stadt. Auch meine Vaterstadt Cingaar und andere Orte in GireTez sind von den Ewigen oder zumindest von halbgöttlichen Dämonen gegründet worden, einige jüngere nur durch Heroen. Aber als man mir die Rekonstruktion der Seebastion übertrug, fanden die Arbeiter gestempelte Gründungsziegel eines vergessenen Königs... Glaubst du, die Götter hätten den Tempel mit eigener Hand erbaut?«
Der Priester zögerte. Welch frevlerische Denkweise! »Selbstverständlich«, versetzte er endlich kühl und legte die Steinplatten beiseite, aus denen er die Legende und das Orakel vorgelesen hatte.
Agrast kraulte sich unschlüssig den Pelz. Natürlich, Thulmir predigte die Abkunft des Bauwerks von den Göttern selbst. Was wäre er ohne sie! Mußte es stimmen? Falls nein: Etwas Gebautes konnte man einreißen!
Zwar war das keine Sache, die man aussprach; aber er glaubte überhaupt nicht an Götter, nicht einmal in dem laxen Sinn, der in den Oberschichten von Gire-Tez verbreitet war. Auch das hatte seine Lehrerin mit gefährlich einfachen Argumenten verschuldet: »Wichtig ist nur was nicht weggestrichen werden kann. Ein Blitz entsteht bekanntlich, wenn zwei Wolken zusammenprallen; so wie Funken sprühen, sobald Eisen und Feuerstein aneinanderstoßen. Braucht man dann noch einen Blitzgott? Ist er aber entbehrlich...« Derartiger Worte wegen war Enistra zu Tode gekommen. Ihr Lieblingsschüler Agrast wollte nicht den gleichen Weg gehen, darum behielt er seine Erwägungen für sich. Zwar war zu vermuten, daß viele seine Ansichten kannten, manche wohl auch teilten; Gedanken aber gingen frei aus, Worte keineswegs.