Er riß sich aus seinen Betrachtungen. »Zeige mir doch zeitgenössische Zeichnungen von den Unsterblichen. Man munkelt daheim, sie hätten recht... seltsam ausgesehen.«
Thulmir schluckte. Das wußten die Girener! So etwas interessierte sie nicht aber der tiefe Sinn des Wunders, wie den Wille einer Gottheit in banale Dinge floß, auf daß sich der Tempel von allein materialisierte! Was galt ihnen der vieldeutige Rhythmus in den Silben des Orakels? Nach Äußerlichkeiten fragten sie. Wahrlich, Barbaren!
»Welche Urkunden hier lagern, ist mir selbst unbekannt, Herr«, sagte er spröde. »Du mußt verstehen, ich war... vorher keiner der Eingeweihten. Erst seit zehnmal sechs Tagen versuche ich Ordnung zu schaffen. Das Tempelarchiv kam zuletzt an die Reihe. Ich sichte es, um mich mit seiner Hilfe auf die Würde. .. die Bürde vorzubereiten. Niemand sonst...«
»Viele Priester oberster Grade«, meldete sich Yalmiron zu Wort, ohne den Verstummten anzuschauen, »gehörten zu den Beratern des unwürdigen Ancheliss und starben wie er. Andere beteiligten sich an der Revolte oder versuchten unsere Krieger an den Tempeltoren aufzuhalten. Dieser da fand Gnade vor den Augen des Fürststatthalters.«
»Schon gut. Hast du nun Bilder, Thulmir?«
»Nur dies da!« Der Priester reichte die Tafel mit den ersten Sätzen der heiligen Legende hinüber. Es war eine fast schrittgroße, polierte Kalksteinplatte, mit einer ätzenden Flüssigkeit beschrieben. Sobald sich die Schrift hineingefressen hatte, reinigte man den Stein und füllte die Furchen mit Farbpaste.
Auf einem pfotenbreiten Streifen über dem Text hatte jemand mit feinen Strichen den Moment festgehalten, da ein Gott dem König Ancheker und dem Priester Thaljamir den Orakelspruch gab. Die Skizze bestätigte das seltsame Gerücht: Der Gott hatte zwar Beine und Arme, aber darüber hinaus keine Pfoten!
Agrast gab die Platte an Yalmiron, der achselzuckend Text und Bild besah, sich aber nicht äußerte. Was soll’s? dachte der Hauptmann. Er kannte zahlreiche Götterbilder, bessere. Denn dieses enthielt einen bösen Malerirrtum. Einen Gott ohne Pfoten kann man nicht achten; der Priester hätte einen fähigeren Künstler bestellen und das Bild neu anfertigen lassen müssen.
»Wie ich es mir dachte«, sagte der Gelehrte leise. »Aber was bedeutet es?« Eilig wandte er sich dem Priester zu. »Vor der Hoheit des Statthalters hast du etwas Seltsames geäußert: daß ihr schon in drei Zimmern wäret. Nicht wahr? Wie meinst du das? Wieviel Tore hat der Tempel?«
Thulmir erwiderte nicht ohne Bosheit: »Eines, nur eines, Herr. Man kann eintreten und muß sich Zimmer für Zimmer vorantworten. Leider... Wir schaffen es nicht, bis ans Ziel zu kommen.« Er breitete Hände und Pfoten aus. »Wie das abläuft, ist umständlich zu erklären. Du müßtest es ausprobieren.«
Etwas aufs Geratewohl zu tun widerstrebte dem Gelehrten. Das stand in seinen Zügen geschrieben. Er zauderte.
»Gefahr droht dabei nicht«, warf der Hauptmann ein. »Ich habe es vorsichtshalber selbst versucht, um dir zureden zu können. Die Fragen waren aber zu...« Verstummend warf er einen grimmigen Blick auf den Priester. Hatte auf dessen Gesicht eben ein hämisches Grinsen gelegen?
»Wenn es so ist, sollten wir gehen«, entschied Agrast. Besser, er sah.
3
Als sie an der Nordwand des Rundgebäudes standen, fragte Agrast nicht. Er sah. Auf dem matten Metall zeichnete sich eine gerundet rechteckige Linie ab. Rechts daneben in Augenhöhe stand in altertümlichen Lettern der Wortlaut jenes Orakels, darunter war ein dicker, roter Knopf.
Neugierig untersuchte er die Schrift. Auffallend genug, daß dem Schreiber nicht der kleinste Schnitzer unterlaufen war, als er sie eingravierte. Anschließend hatte man sie mit einem goldroten Metall gefüllt. Das entsprach zwar der üblichen Methode, hingegen war wohl keiner imstande, so ein hartes Eisen zu ritzen. Einer übermenschlichen Fähigkeit bedurfte das.
»Sobald du darauf drückst, geht die Außentür auf. Aber bloß einer kann eintreten, und auch das nur einmal am Tag«, erklärte Thulmir eifrig. »Im Inneren des Tempels sitzt ein guter Dämon...«
»Ich habe reden hören, wie man Dämonen macht... in einigen Tempeln«, versetzte Agrast skeptisch, sich halb umdrehend.
Der Priester schlug die Augen nieder. »Ich weiß. Aber du wirst einsehen, daß da wirklich niemand... falsch spielt. Der hat keinen Namen; wenn man ihn fragt, nennt er sich Diener seiner Herren. Ist ein Diener von Göttern etwas anderes als ein Dämon? Er wird eine Frage an dich stellen. Auf die richtige Antwort hin öffnet er die erste Zwischentür und so weiter. Alles das bekommst du übrigens zu hören.«
Eine Weile blieb es still. Der Weise kraulte sich das Fell. Apart! dachte er. Doch warum solche Umstände? Natürlich! Damals war Anche eine Insel im Meer der Barbarei. Die Erbauer wollten nur Verständige zu sich lassen. »Glaubst du an den Dämon?«
Oh, diese Ungläubigen! Der Priester antwortete nicht sogleich. Selbstverständlich ein Dämon, was denn sonst? Wie aber erklärte er das solchen Primitiven? Seit Anbeginn hatte niemand den Metallturm betreten oder verlassen. Sollte ein Mensch darin sein, er wäre im Wechsel der Dynastien von Anche verdorrt und verschmachtet. Weder Speise noch Trank konnten derart lange vorhalten. Es war ein Dämon! Er sagte das so simpel wie möglich.
»Versuchen muß man es«, meinte Agrast daraufhin. Er wußte bereits, daß nichts ihn an diesem Wagnis hindern könnte. Jeder Weise litt an der gleichen Krankheit: an nie versiegender Neugier. Er drückte entschlossen den Knopf.
Ein kratzendes Geräusch dann klappte die Metalltür nach innen. Ein Windstoß blies Sand aus der Öffnung und ließ die beiden Girener zurückzucken. Thulmir grinste verborgen; wie alle Priester kannte er den Atem des Tempels.
Agrast überwand eine gewisse Scheu und trat ein. Als er sich unruhig, aber neugierig umblickte, bemerkte er, daß sich die Tür lautlos hinter ihm geschlossen hatte. Jetzt erst wurde ihm etwas Seltsames bewußt. Es hätte stockfinster sein müssen. Doch auf unbegreifliche Weise leuchtete die Zimmerdecke in weißgelbem Licht und erhellte das Gemach bis in jeden Winkel. Es war merkwürdig geformt: wie ein Stück eines breiten Ringes, vielleicht ein Drittel davon oder ein Viertel. Von Länge und Breite ließ sich deshalb schlecht sprechen. Gut möglich, daß der anschließende Nebenraum ähnlich geformt war; und er würde nach Frage, Antwort und abermals Frage und Antwort die Mitte des Tempels umkreist haben. Im Zentrum befand sich wohl das Heiligste. Doch wie dann weiter? Und weshalb Fragen? Welch merkwürdige Sitte!
Er trat ein Stück zur Seite und gewahrte in der linken Querwand den eingeritzten Türumriß. Dorthin also oder zurück!
»Ich begrüße dich, Bewohner dieser Welt!« unterbrach ihn eine deutliche, glatte Stimme. Sie benutzte das alte Anchisch, dessen sich nur noch die Gelehrten untereinander bedienten; andererseits klangen die Worte so frisch, daß ihr Sprecher nicht alt sein konnte »Du bist zu uns gekommen, um zu erfahren, was es mit uns auf sich hat. Ich bin beauftragt, dich zu prüfen,
denn hur ein Weiser darf die Wahrheit vernehmen. Bist du bereit, meine Fragen zu beantworten?«
»Ich bin bereit«, sagte Agrast beklommen. Was geschah eigentlich? Man sprach zu ihm, doch wer und woher? Die cremefarbigen Mauern waren glatt wie poliertes Metall, aber gewiß weder Bronze noch Eisen. Er betastete die nächste Wand. Sie faßte sich beinahe warm an. Auf welche Weise drangen die Worte zu ihm?
»Wie viele Tage enthält ein Jahr?«
»Viertausendfünfhundertundelf ein halbes Menschenleben lang«, erwiderte Agrast verblüfft. Mit solch einem Thema hatte er zuallerletzt gerechnet. Wenn der da hinter der Wand ihn nach Passagen aus Götterlegenden oder nach dem Ritus der Heiligen Flamme gefragt hätte...