»Deine Antwort ist genau genug. Du darfst jetzt selbst eine Frage stellen und hernach ins anschließende Zimmer gehen.« Schurrend klappte das umschriebene Wandstück zurück.
Fragen? Was? Ja, so: »Wieviel solcher Zimmer gibt es in diesem Tempel?«
Er konnte gerade Atem schöpfen, da erklang die Antwort. »Sechzehn.«
»Weshalb gerade sechzehn?«
Es blieb still, und Agrast erinnerte sich, nur eine Frage frei gehabt zu haben. Vertan! Oder auch nicht. Es nutzte, wenn man wußte, wie weit es zum Ziel war.
Zuversichtlich betrat er den nächsten Raum. Seine Vermutung wurde bestätigt; dies Zimmer war ebenso ein Ringsegment, nur prangten die glatten Wände in blassem Grün. Beides beruhigte den Weisen ein wenig.
»Bist du bereit, meine Frage zu beantworten?« Dieselbe Stimme. Der Girener vermutete, daß wer der Jemand auch immer war dieser... Mann innerhalb mitging. Durchaus, konsequent, nur eine Audienz pro Tag zu gewähren. Ein Mehr
würde die Bedeutung entwerten. Dazu die Sache mit dem Alter und der Nahrung... Er nahm sich zusammen.
»Ich bin es.«
»Das Wievielfache des Durchmessers umfaßt ein Kreis?«
Oh! dachte er. Das ist keine leichte Frage. Neun von zehn girenischen Philosophen und sicher viele anchische Priester würden flugs »Drei!« erwidern. Aber bei meinen Gewölbekonstruktionen bin ich mehrfach darauf gestoßen, daß die Zahl geringfügig größer ist. Der genaue Wert scheint mir aber keine handhabbare Zahl zu sein. Gern hätte ich das Verhältnis Kreisfaktor genannt, doch das Wort läßt sich nicht ins Altanchische übersetzen.
»Soviel ich herausbekommen konnte, verhalten sich Umfang und Durchmesser wie zweiundzwanzig zu sieben«, erwiderte er zögernd.
»Deine Antwort ist genau genug. Du darfst jetzt selbst eine Frage stellen und hernach ins anschließende Zimmer gehen«, wiederholte der Unbekannte. Einladend öffnete sich die Tür zur Linken.
Zuerst wollte Agrast nachhaken, was es mit der ungewöhnlichen Zahl der Zimmer auf sich habe. Aber es gab Wichtigeres speziell für ihn als Architekten. Wie erfuhr er die Wahrheit? Er besann sich auf den Dreh, mit dessen Hilfe seine Lehrerin das Tempelorakel von Gire des Betrugs überführt hatte. Eine Weile formulierte er im stillen, dann öffnete er den Mund: »Du sagtest, meine Antwort sei genau genug; ich schließe daraus, sie ist nicht exakt. Mir liegt an der Wahrheit. Was hätte ich antworten müssen?«
Diesmal blieb es eine geraume Zeit still. Agrast befürchtete, den... den Frager gereizt zu haben. Jene Entlarvung hatte Enistra schließlich den Haß der girenischen Priesterschaft zugezogen. Was geschah dann? Irgendwie glaubte er aber
nicht an eine Gefahr, allenfalls an einen Hinauswurf. Wer nach der Weisheit forschte, ignorierte Zwischentöne.
»Ich kann dir nicht antworten. Täte ich es, erhieltest du Wissen, das euch erst in einem späteren Stadium zusteht. Stelle eine neue Frage!«
Agrast hätte gern aufgelacht, so erleichtert fühlte er sich. Allerdings wurde alles komplizierter, wenn sein unsichtbarer Gesprächspartner rein sachlich reagierte. Eine andere Frage? Er fragte nun doch: »Warum sind es gerade sechzehn Zimmer, warum nicht achtzehn oder zwanzig?«
»Ihr zählt auf Grund eurer Finger und Zehen; wir pflegen zu zählen: eins, zwei, vier, acht, sechzehn, zweiunddreißig und so fort. Das ist zweckmäßiger. Um so anspruchsvolle Fragen zu stellen, wie sie nötig sind, damit ihr die ganze Wahrheit erfahrt, reichen nach Auffassung meiner Herren sechzehn Zimmer aus. Ausgenommen das unterste, sind in jedem Stockwerk sechs. Der letzte Raum befindet sich oben in der Kuppel.«
Agrast ging nach nebenan; nachdenklich, denn das Gehörte beschäftigte ihn sehr. Dieses Zimmer war in leuchtendem Purpur gehalten, als wenn die rote Sonne es erfülle. Wie erwartet, befand sich eine Türlinie in der linken Wand...
»Bist du bereit, meine Frage zu beantworten?« fragte der Unsichtbare gleichmütig.
»Sprich!«
»Welche Gestalt hat die Welt?«
Ein Schauer überlief Agrast und ließ seine Pelzhaare erzittern. Wahrlich, die Fragen wurden von Zimmer zu Zimmer schwieriger. Wieviel Tage ein Jahr hatte man mußte nur geduldig zählen, die Position der Sonnen beobachten und wußte es; Umfang und Durchmesser des Kreises zu vergleichen war mit ein bißchen Verstand ebenso möglich. Aber das? Er erinnerte sich, wie in Enistras Philosophenschule erbittert gestritten wurde. Die Majorität verfocht die These der Schale, die im
Weltmeer schwamm. Andere schworen auf andere Bilder, einige hielten die Frage für prinzipiell unlösbar. Er hatte sich Enistras Ansicht angeschlossen, zaudernd, denn war ihre Antwort unanfechtbar? Außer ihrem indirekten Beweis gab es nichts. Man hätte schon wie ein Vogel am Himmel schweben müssen...
Er mußte Stellung beziehen. »Ich meine, sie ist eine große Kugel. Meine Lehrerin ließ im letzten Sommer an zwei weit voneinander entfernten Stellen den Winkel messen, unter dem das Licht der roten Sonne herabfällt. Aus dem Unterschied errechnete sie den Durchmesser der Welt auf vierzehntausend Pets.«
»Wie groß ist ein Pet?« kam unverzüglich die Gegenfrage.
Ach ja, die alten Ancher hatten bloß Queis! Dumm, daß ich das vergaß, erinnerte sich Agrast. Ein Quel ist ein Schritt, selten präzis anzugeben, ein Pet dreitausendsechshundert Fußlängen. Wie rechnet man das eine in das andere um? Zögernd erläuterte er die Situation und fluchte insgeheim, weil die alte Sprache kaum passende Worte bereithielt.
Sein Zuhörer schwieg eine Zeitlang. Sicherlich prüfte er nach. Agrast nahm das für ein gutes Omen. Falls seine Antwort »Kugel« falsch gewesen wäre, würde der andere nicht erst nachgefragt haben. Oder unterschob er dem... Dämon fälschlich menschliche Denkweisen?
»Deine Antwort ist zu ungenau. Ich hatte allerdings nicht nach den Abmessungen der Welt gefragt«, sagte der Unsichtbare. »Ich erkenne sie also als gültig an. Du darfst jetzt selbst eine Frage stellen und hernach ins anschließende Zimmer gehen. Ich spreche dir mein Lob aus, weil du als erster den vierten Raum betreten wirst; meine Herren werden das zu gegebener Zeit erfahren.«
Die Seitentür klappte auf. Hinter ihr sah man eine Stufenfolge.
Erschöpft lehnte sich der Weise an die Wand. Schweiß brach ihm aus allen Poren und durchfeuchtete seinen Pelz. War er wirklich zu alt für seine Aufgabe? Hier war doch das Ziel, nach dem er zeitlebens gestrebt hatte! Hier lehrte man wenn es auch gewissermaßen unwillig geschah. Enistra müßte hier stehen...
Sechzehn Zimmer, jede Frage schwieriger als die vorherige. Die Erbauer wünschten nicht mit Dummen zu reden. Begreiflich. Wer war in ihren Augen würdig? Er gewiß nicht; denn wer schon zu Anfang der Prüfung voranstolperte und lediglich fast zufällig weiterkam, würde im nächsten Gemach sicher scheitern.
»Nenne mir doch eine Frage, wie sie in späteren Zimmern gestellt wird!«
»Das ist ein Befehl. Ich nehme keine Anweisungen entgegen.«
»Ich verstehe, verzeih. Was du im nächsten Raum fragst, werde ich sowieso hören. Welche Frage würdest du im.. .zehnten Zimmer stellen?«
Die Antwort kam augenblicks. »Welche Frist braucht das Licht im Minimum, um von eurer weißen Sonne bis hierher zu gelangen?«
»Welche...?« Fröstelnd ging der Girener weiter. Er sagte nichts mehr, war bereits besiegt. Allzu hoch ragte die Mauer zwischen ihm und der Wahrheit.
Der Treppenschacht war von halbkreisförmigem Grundriß. Sechzehn Stufen führten in Wendelform hinauf. Alles war silbergrau und metallglatt, aber nicht von Eisen. In Kopfhöhe begleitete ein leuchtender Streifen den Emporsteigenden. Agrast berührte das weißstrahlende Lichtband, spürte aber nichts vom Feuer, das hinter dem Bergkristall lodern mußte. Er verstand immer weniger. Ein Bau der alten Ancher? Ausgeschlossen. Wessen Werk sonst? Doch der Götter? Danach mußte er beim nächsten Mal fragen!