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Oben angekommen, schöpfte er Atem. Keine Tür sperrte den Weg ins erste Zimmer des Obergeschosses. Er fuhr zurück und schrie leise auf. Die gekrümmte Außenwand fehlte! Eine Veranda! Warum hatte er das von außen nicht gesehen? Er trat näher und bemerkte sogleich, daß zwischen ihm und dem Abgrund eine fast durchsichtige Mauer von Bergkristall war. So große Steine hatte er noch nie gesehen. Übrigens von außen wirkte der Tempel doch wie aus Metall geschmiedet, da war keine Spur von kristallgefüllten Fenstern. Sehr merkwürdig das.

Sein Blick reichte über die Häuser der Tempelstadt bis zum Schloß von Anche. Die Flammenbäume des Parks verschwammen auf die Entfernung zu einem metallisch schillernden See voller Grün und Silber und Gold. Hinter allem zog sich die Kette des Roten Gebirges...

Über dem Unerhörten hatte Agrast den Ritus versäumt. Erst als die Stimme aus der Wand zum zweitenmal und wohl lauter fragte, antwortete er.

Das Befürchtete geschah. Die Frage ließ sich nicht beantworten. Welcher Mensch konnte wissen, wie weit entfernt von der Welt die rote Sonne leuchtete? Obendrein wieso »im Mittel«? War sie denn manchmal näher? Ungemein entfernt, gewiß, aber eine Zahl? Agrast mochte nicht raten und lügen, er gestand seine Unwissenheit.

»Die Antwort ist ungenügend. Ich fordere dich auf, dieses Zimmer und alle vorher aufgesuchten zu verlassen. Falls du widerstrebst, muß ich meine Hilfsmittel benutzen. Es wäre unangenehm für dich.«

Agrast gehorchte widerspruchslos. Wer das gebaut hatte, verfügte über Kräfte, gegen die kein Girener ankam, nicht einmal der tapfere Girenui.

Er ging die Treppe hinab, hinter ihm schloß sich die vierte Tür. Er passierte den roten, den grünen und den cremefarbenen Raum, hinter ihm klinkten die Türen ein. Dann öffnete und schloß sich die Außentür. Thulmir und Yalmiron schauten ihn neugierig an.

»Gehen wir!« sagte Agrast abwesend. »Ich muß das erst einmal durchdenken. Anschließend stellen wir einen Arbeitsplan für die nächsten vier, fünf Tage auf. Am sechsten, denke ich, kann ich vor Seine Hoheit treten.«

4

Im Kleinen Audienzzimmer brannten einige Kerzen, zu wenige, um den Raum zu erhellen. Yalmiron und Agrast waren allein, eine Hoheit wartete nicht auf Untertanen. Wann der Fürststatthalter erscheinen würde, stand dahin. Zur Zeit beriet er mit den Führern der Krieger. Man munkelte im Palast, in den Bergen im Nordwesten von Anche-Tez gebe es Anhänger des erschlagenen Königs Ancheliss, die sich zu einem Gegenangriff sammelten. Sollten die Girener bis zu den Grenzorten vorstoßen und sie besetzen? Das Expeditionskorps war nicht allzu stark, man mußte sorgsam erwägen, ob man größere Teile absplitterte. Zudem nahte der Winter und würde die Pässe über das Rote Gebirge für Nachschub unbegehbar machen.

Wachhauptmann Yalmiron zerbrach sich darüber nicht den Kopf. Seine Mission näherte sich dem Ende. Er fühlte sich leichter. All das stand seinem Metier so fern! Die Schwerter in den Händen, die Schilde in den Pfoten so hatte er seinen Weg vom Jungkrieger zum Offizier gemacht. Was kümmerte ihn ein rätselumwitterter Tempel aus Eisen? Oblag es ihm, sich mittels spitzfindiger Fragen und Antworten von einem Zimmer ins andere zu bitten? Leider war es tatsächlich unmöglich, mit

Ramme und Schleuder die Türen zu sprengen. Sonst hätte man auf Agrast verzichtet.

Es entstand ein Geräusch. Zwei Gardesoldaten begleiteten den Prinzen herein. Yalmiron salutierte, Agrast berührte mit den Pfoten den Boden.

Girenui nahm Platz und winkte den beiden, sich ebenfalls zu setzen. Die Leibwächter blieben hinter ihm stehen. »Nun, Agrast, was kannst du berichten?«

»Hoheit, ich habe gute und weniger gute Nachrichten. Zwar gelang es mir, die vierte Tür zu öffnen...« Er schilderte seine Erlebnisse im Tempel, skizzierte die Gemächer, wiederholte die Gespräche, so gut es seinem Gedächtnis möglich war. »Aber«, so schloß er, »ich fürchte, Deine Hoheit wird aus dem Tempel nie den Nutzen ziehen können, der dir wohl vorschwebt. Darin ist Wissen gestapelt wie Kornsäcke in einem Speicher, und ein dienstbarer Geist stellt Fragen und beantwortet andere gleich einem Magazinverwalter, der einnimmt und ausgibt.«

»Also doch ein Dämon, wie der Priester sagte.«

Agrast öffnete den Mund zum Protest. Rasch besann er sich und sagte nur: »Es scheint so.« Wie hätte er dem Prinzen erklären sollen, daß alles viel komplizierter war? Daß seines Erachtens kein Gott den Tempel erbaut hatte? Enistras Geist schwebte unsichtbar durch den Raum und warnte. »Zumindest kann ich eins beweisen: Die den Tempel schufen, waren keine Menschen wie wir. Wir haben an Händen und Pfoten je sechs Finger und ebenso sechs Zehen an den Füßen. Kein Wunder, daß wir sechs, zwölf, achtzehn und so fort zählen. Im Tempel des Feuerstrahls tut man es aber anders...« Er wiederholte die Geschichte von der Zimmerzahl. »In den verflossenen Tagen ließ ich das Tempelarchiv systematisch durchsuchen. Es ist ja voll von Berichten über Verkündigungen. Rein mechanisch ordnete ich die Notizen danach, welche Fragen in welchem

Raum gehört wurden. Bisweilen ist seelenlose Gründlichkeit von Nutzen. Wie sich herausstellte, wird im ersten Zimmer immer nur eine von acht verschiedenen Fragen gestellt, im zweiten eine von sechzehn, allerdings anderen, komplizierteren Fragen; im dritten hat man bis heute achtundzwanzig verschiedene aufgeschrieben... Ich verwette meine rechte Pfote, daß es zweiunddreißig sein werden. Im nächsten kenne ich jetzt die erste von wohl vierundsechzig. Sieh, Hoheit, das ist nicht unsere Zählweise, sondern eine andere...«

»Eine göttliche!« fiel der Königssohn ein.

Agrast deutete mit einer Kopfbewegung seine halbe Zustimmung an. »Ich denke, man kann dort noch unglaublich viel lernen. Allein vier Besuche im Tempel lieferten mir soviel Stoff zum Nachdenken, daß es für ein Jahr reicht. Man hat mich gelehrt, daß eine Antwort zwei Fragen gebiert.«

Girenui lächelte flüchtig. Enistras Motto war ihm bekannt. Ein Berater hatte es als Indiz für die gefährliche Gottlosigkeit Agrasts angeführt, als er dessen Berufung widersprach. »Zum Beispiel? Vergiß nicht, daß du mit einem unweisen Fürsten sprichst und nicht mit einem Philosophen.«

Es wurde bedrohlich still. Dann fuhr der Prinz fort: »Ich habe genau hingehört, Agrast. Daß du ungläubig bis zum Frevel bist, wurde mir schon zugetragen. Die Leute hatten recht. Ich will darüber hinwegsehen, weil ich Fürststatthalter und kein Großpriester bin. Aber das bedeutet ja nicht, taub und blind zu sein. Am besten bleibst du dabei, von Dämonen und Göttern zu sprechen.«

Agrast verneigte sich bis zum Boden. Ihm war ins Bewußtsein gerufen, welche Gefahr vor ihm stand. Girenui mochte leutselig und wohlwollend sein er war nicht seinesgleichen, mit dem, man ohne Ansehen der Person disputieren konnte. »Deine Hoheit mag mir die Wortwahl nachsehen. Der... Dämon fragte mich beispielsweise, welche Frist das Licht von der

weißen Sonne braucht, um uns zu erleuchten. Hoheit, ich hätte keinen Gedanken an das Problem verwendet, ob es überhaupt Zeit benötigt ich ahnte nicht einmal, daß man dergleichen irgendwie messen könnte. Zumindest das weiß ich jetzt. Siehst du, deshalb hoffe ich, dort noch viel zu lernen. Nur es ist eben nichts, was einem Herrscher deines Ruhmes nützen kann.«

Girenui nickte. Wohl gesprochen. Dennoch uninteressant? War dort überhaupt nichts, was er zur Heeresrüstung verwenden konnte? »Frage beim nächstenmal den Dämonen, woraus man Schwerter machen kann, die nicht mehr brechen. Oder wie man die Schußweite unserer Feldkatapulte erhöht«

Yalmiron richtete sich auf. »Hoheit, das eine unternahm ich auf eigene Faust, als Herr Agrast mir von seinem ersten Erlebnis berichtete. Während er tags darauf Steintafeln und Rindenbriefe sortierte, betrat ich den Tempel des Feuerstrahls, beantwortete glücklich die erste Frage und erkundigte mich nach ebendiesem Thema. Ich hatte einen besonderen Anlaß. Du weißt gewiß, daß beim Kampf um die Mauern von Anche das Schwert meiner Ahnen barst und ich mich nur mühsam mit dem zweiten Schwert verteidigte, bis meine Krieger mir zu Hilfe kamen. Der Dämon erwiderte, man müsse dem Schmiedeeisen gewisse Mengen gewisser Stoffe zusetzen, für die es im Altanchischen aber keine Namen gebe. Ich Unweiser ging so klug, wie ich kam.«