»Angesichts dieses Resultats tat ich heute ein übriges«, fügte Agrast hinzu, »und erkundigte mich im dritten Raum, wie man die Bailisten verbessern könne. Das fällt ja ein bißchen in mein Metier. Die Antwort war eine Absage. Er werde sich nicht äußern, weil seine Herren über alledem stünden.« Es war nicht die ganze Wahrheit.
Die Lippen schürzend betrachtete Girenui den Mann aus Cingaar. Was er und der Hauptmann gesagt hatten, paßte zueinander. Und es war auch irgendwie vernünftig, wenn auch nicht für einen Prinzen. Die Frage lautete nun: Wie entschied er sich? Er konnte selbst hingehen... aber es wäre dem Ansehen eines Fürststatthalters abträglich, zuzugeben, daß ein Agrast mehr erreichte als er. Die Worte des Dämons waren zweifellos eine wohlformulierte Ausrede. Er kannte dergleichen von Höflingen. Man wollte den Menschen nicht helfen. Weshalb auch? Kümmerte sich ein König um den Zwist zweier Bauern?
Was also tun?
»Ich werde meinem königlichen Vater Bericht erstatten«, sagte er langsam. »Das letzte Wort steht ihm zu. Ich verfüge, daß Agrast bis auf weiteres den Tempel leiten soll. Was immer für mich an Wissen herausgeholt wird, es kann wohl nur nützen. Yalmiron, dir übergebe ich die gesamte Tempelwache; zu diesem Zweck ernenne ich dich zum Oberhauptmann.«
»Ich danke dir, Hoheit.« Yalmiron salutierte.
»Auch ich danke dir, Hoheit«, schloß sich Agrast an. Da die Worte eindeutig die Entlassung bedeuteten, ließ er sich auf die Pfoten nieder und verließ rückwärts gehend den Kleinen Audienzraum.
5
Seufzend glättete Agrast das Schreibmaterial. Es war ein großes Stück Baumrinde. Gewöhnlich notierte man darauf unwichtige Dinge und übertrug sie bei Bedarf auf die ewigen Steintafeln. Was er nieder schreiben wollte, war freilich nicht belanglos.
Er befand sich in einem abgelegenen Raum des Opfergebäudes. Seit zwei Tagen mußte man ihn Hohepriester nennen er legte keinen Wert auf den Titel und trug den Goldreif fast nie.
Doch nun lag in seiner Hand der Schlüssel zur Weisheit. Wenn er nur wüßte, wie man ihn bediente!
Es war Zeit, die tote Lehrerin teilhaben zu lassen. Agrast begann zu schreiben, zu berichten, was das Resultat seiner Überlegungen war. Er hatte es immer getan, ob sie nun lebte oder nicht.
»Was geschehen ist, weißt du sicher; weil die Toten ja alles Geschehene wissen. Aber du sollst erfahren, was ich denke. Ich wage nicht, es auszusprechen. Enistra, es mag lästerlich klingen, aber dieser Tempel ist kein Götterwerk.
Es steht geschrieben, daß die Götter den Menschen nach ihrem Bilde schufen. Aber gestern fragte ich im dritten Raum den Verwalter, wie denn seine Herren aussähen. Darauf erschien auf einer Wand ein paar Atemzüge lang ein Bild, so bunt und so genau, als wäre es Wirklichkeit. Frage mich nicht, wie er das bewirkte. Jedenfalls waren sie ganz anders als wir. Sie trugen fremdartige Kleidung, nicht unähnlich der der Barbaren in den Kristallfelsen. Vor allem hatten sie keine Pfoten, ganz so, wie es die Skizze auf der Steintafel vermuten ließ.
Getreu Deiner Frageweise müßte man nun nachdenken, weshalb der Verweser des Tempels Altanchisch spricht. Ein Gott oder Dämon ist allmächtig und brauchte keine Verständigungsschwierigkeiten hinzunehmen, indem er eine kaum mehr gebräuchliche Sprache benutzt. Ich glaube daher nicht weit von der Wahrheit zu sein, wenn ich an der Göttlichkeit des Sprechers zweifle. Was seine Lebensdauer angeht, so könnte ich kurz behaupten, daß niemand ahnt, wie lange jemand lebt, der eben kein Mensch ist. Das wäre zu billig; zumal kam mir in der letzten Nacht eine wahnwitzige Idee, die ich freilich nie aussprechen werde: Wenn dort niemand spricht? Wenn es etwas Ähnliches ist wie die Spieluhren, die fahrende Gaukler aus Anche benutzen natürlich sehr viel vollkommener gebaut,
wie ja auch der Tempel weit besser ist als alles, was wir kennen!
Wer die Erbauer waren, kann ich nicht wissen; vielleicht weißt du es bereits. Aber ich versuche, die Antwort zu finden, indem ich zuerst erwäge, wie sie waren. Gewiß wohlwollend, denn sie lehren uns durch den Zwang zum Nachdenken doppelt. Fünfzehn Dynastien sind vergangen, seitdem sie gingen; und ich stand im vierten Zimmer. Demnach müßten noch bald fünfzig Dynastien verlöschen, bis jemand in der Kuppel die ganze Wahrheit erkennt. Inzwischen werden wir alle die Weisheiten erfahren haben; die den Weg dorthin öffnen. Und es wird sich auch manches andere wandeln.
Du hast aus dem Jenseits zugesehen, wie ich dem Prinzen bezüglich der Katapulte antwortete. Die Antwort des Tempelverwalters lautete aber anders, doch ich wagte nicht, sie zu wiederholen: >Bessere und wirksamere Waffen werden den Zugang zur Wahrheit erschweren!< Wenn ich das durchdenke, muß ich die... anderen achten. Von welchem Thron aus kann man so reden!
Ich schrieb >andere<. Woher kamen sie zu uns, wenn sie keine Götter sind? Vermutlich sagt es die Sage: Sie stiegen unter Rauch und Feuer herab und kehrten als Feuerstrahl in den Himmel zurück. Woher und wohin? Weit weg, sonst hätte man mich nicht gefragt, wie weit es bis zur roten Sonne sei. Zu dem Zweck müssen sie dort entlang gegangen oder geschwebt sein.
Es gibt noch viele Fragen, Enistra. Wie will der Verweser seine Herren verständigen, was er doch ankündigte? Warum ließ man ihn hier zurück, kommen seine Herren denn erst in grauer Spätzeit aufs neue her und warum dann? Worin besteht die Wahrheit in der Kuppel, im Weg zu ihnen?
Es wird spät, ich bin müde. Ich habe wohl noch ein Jahr zu leben. Ich weihe es dieser gigantischen Aufgabe. Sollte ich
scheitern, werden Schüler den Weg weitergehen. Ich verspreche es Dir. Du wirst nicht umsonst gestorben sein.«
Er tat den Pinsel beiseite, überlas den Text noch einmal und rollte die Rinde zusammen. Sorgsam umwand er sie mit einem Band, versiegelte es und warf die Rolle ins Feuer.
Das dünne Material flammte auf, loderte hoch und verzehrte sich. Während die Reste zerfielen, kräuselte sich ein Rauchfaden in die Höhe.
Agrast sah dem schweigend zu. Dann begab er sich in die Bibliothek, um die Fragen für den kommenden Tag zurechtzulegen.
Der Arzt
1
In der Feme schreit ein Tucus. Mich fröstelt bei der Vorstellung, dieses alptraumhafte Tier könnte in den Lichtkreis meiner Nachtlampe treten. Ein bepelzter Greifrüssel, dazu zwei dolchartige Hörner auf der Stirn, gegen die das erfaßte Opfer geschleudert wird und erst die gelben Reißzähne! Aber der Tucus furchtet sich, näher zu kommen. Die Feuer auf den Wachtürmen am Ortsrand und der monotone Ruf der Legionäre schrecken ihn ab.
Wir sind nicht wehrlos. Optimus Taurus hat schon drei dieser Raubtiere erlegt, andere Jäger töteten hier und dort eins... Mir scheint, die Bestien beginnen uns zu meiden.
Spät ist in diesem Jahr der Frühling eingezogen, doch seit einigen Tagen weht ein weicher Südwind und treibt den würzigen Duft der Cystalla-Büsche mit sich. Trotz ihrer Fremdheit erinnern mich die großen, dunkelblauen Blüten an die Heimat, an die Gärten und Obsthaine Hispaniens. Vielleicht liegt das an der Jahreszeit. Sieben Sommer ist es jetzt her...
Der Schrecken blieb hinter uns und in uns begraben, die Angst wich der Neugier, der Alltag forderte seine Rechte. Die Ordnung ist seit langem zurückgekehrt, die alte, gewohnte Ordnung. Tagsüber denkt wohl kaum jemand an den Schock, aber in den Nächten...