»Oder?« fragte ich mechanisch.
»Oder du fliegst mit deinen Brüdern in die fremde Welt unter der anderen Sonne und hilfst ihnen neu beginnen.«
Ich sprang auf, um fortzurennen. Doch wohin? Nirgends gab es eine Tür.
Durgal hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Nur seine kalten Augen folgten mir. »Du hast Angst, Arzt. Du brauchst keine Furcht zu haben. Unser Wort gilt: dir droht nichts. Die Entscheidung liegt frei bei dir. Ich weiß, sie ist schwer; aber bedenke: Du bist der erste Mensch auf deiner Welt, der diese Wahl hat. Deinen Brüdern widerfahrt nur eine Gnade. Sie hätten sterben müssen, wir lassen sie weiterleben woanders und nicht unter leichten Bedingungen. Du kannst wählen, Sabinus Julius!«
»Woher kennst du meinen Namen?« fragte ich stockend.
»Nimm an, wir haben deine Gedanken gelesen, während du schliefst. Wenn du deine Brüder begleitest, ist der falsche Name entbehrlich, du wärst aller Verfolgungen ein für allemal ledig. Dorthin kann Octavianus Augustus bestimmt nicht greifen.«
Ich schloß die Augen, preßte die Fäuste gegen die pochenden Schläfenadern. »Wer steht für dein Wort, Durgal? Ich weiß, man muß einem Gott trauen, aber... Ich habe nichts zu verlieren. Wo sind die Toten?«
Er berührte einen anderen Farbfleck. Eine zweite Wand glitt beiseite. Wieder ein riesiges Fenster. Dahinter dehnte sich ein düsterer Raum. Dicht bei dicht lagen menschliche Körper: Männer, Frauen, Kinder.
»Marcus Verus ist dort in der Ecke.«
Ich erkannte ihn. Steif reckte sich das narbige Gesicht empor, wie wenn er schliefe. Doch er atmete nicht.
»Sie sind tot!«
»Nein, nur erstarrt wie im Frost. Während der Fahrt zu jenem Stern werden unsere Ärzte sie untersuchen und von sämtlichen Krankheiten heilen. Am Ziel seid ihr gesünder als je zuvor.«
Ich zauderte. Stimmte das? Nachprüfen! »Erwecke einen, damit ich sehe...«
»Ich könnte es. Doch anschließend müßten wir ihm die Erinnerung an diesen Moment nehmen. Das ist ein mühseliges Geschäft. Du mußt mir schon glauben, daß diese Leute noch leben.«
Merkwürdig, ich glaubte es tatsächlich. Ein Umstand vor allem flößte mir Vertrauen ein: Er stand mir wie ein Schüler Rede und Antwort. Dabei lagen doch sämtliche Mittel in seiner Hand; ich war sein Gefangener, nicht er der meine.
»Du sprachst von eurer Moral, Herr... Ich nehme dich beim Wort: Was tätest du an meiner Statt?«
Durgal wandte sich abrupt um und starrte mich an. Nach langer Pause sagte er: »Sabinus Julius, du bist zu früh für deine Zeit. Du hättest verdient... Weißt du, mich reizt das Komplizierte, nicht das Bequeme. Darum flog ich mit den Meinen und blieb nicht geruhsam daheim.
Auf dem fremden Stern, das ist das Schwerere. Ihr müßt Neues lernen und Altes vergessen. Andere Bäume, anderes Gras, andere Tiere, ein anderer Himmel, stell dir das vor! Ich würde mich fragen, ob nicht mein Können in Taltesa verrostet. Dort wird es bestimmt gebraucht, im perfekten Versteck in Nordhispanien stirbt es ab. Sabinus Julius, mein Wort darauf ich würde fliegen!«
»Fahren!«
»Sagte ich etwas anderes? Ja, natürlich: fahren.«
»Nur mit Cassia!«
»Das ist möglich. Sofern sie einverstanden ist, mag sie dich begleiten. Ich werde sie fragen. Es ist kompliziert, weil ja alles geheim bleiben muß. Sie wird sich hinterher nicht daran erinnern. Eigentlich... eigentlich müßten wir auch dir die Erinnerung nehmen. Es wäre nur zu deinem Besten doch es wäre unmoralisch, denn du warst in einer Situation klüger als wir.«
Klüger? Ein Zufallserfolg. Er überschätzte mich. Und doch... Ein fast wahnwitziger Gedanke wühlte in mir. Ich blickte auf: »Herr, vorhin sagtest du, ihr wollt die Kranken unterwegs heilen. Schließlich bin ich Arzt kann ich dabei lernen?«
Zum zweitenmal war Durgal merklich betroffen. »Ich spreche mit meinen Brüdern darüber. So eine Entscheidung liegt nicht bei mir allein. Aber du wirst uns in jedem Fall helfen können.«
8
Stimmengewirr weckte mich Rufen, Schreien, Kreischen, Schluchzen. Ich lag in einem kleinen Militärzelt, gekleidet wie immer und anscheinend unversehrt. Nur mein Rücken schmerzte, weil meine Toga eine Druckfalte gebildet hatte. Neben mir rekelte sich Cassia und murmelte Unverständliches. Sicherlich würde sie gleich erwachen. Der Zeltvorhang war geschlossen, aber nicht zugeknöpft, wie es üblich war. Dort, wo das Tuch den Boden berührte, stapelten sich Bündel und Kästchen. Ich kannte sie. Woher? Alles war mir irgendwie vertraut wie die Erinnerung an einen soeben entschwundenen Traum gegenwärtig und doch uneinholbar.
Ich setzte mich auf, bewegte mechanisch die Gliedmaßen, bemüht, mich zu erinnern. Eine gewisse Trägheit schwappte in mir. War ich krank? Nichts schmerzte, auch schwächlich fühlte ich mich nicht. Etwas matt, allenfalls. Wie kam ich hierher? War ich...? In einem Schwall kehrte die Erinnerung zurück. Am Ziel! Dies war eins der hundertfünfzig auf meinen Rat gekauften Militärzelte.
Am Ziel! Durgal war verschwunden und vergessen. Nein, vergessen nicht. Niemals. Aber gegangen auf Nimmerwiedersehen.
Wann hatten wir zuletzt miteinander gesprochen? Als er mir am Fenster einen dicken weißblauen Punkt zeigte und sagte, dahin müßten wir. Doch wie lange war das her? Tage mochten verstrichen sein. Oder nur ein langer Augenblick. Mein Zeitgefühl war zerrissen.
Durch das trockene Zelttuch sah ich die Sonne strahlen. Es war warm. Draußen wurde der Lärm lauter und schriller. Ich kroch zum Vorhang und öffnete ihn.
Obwohl ich ahnte, was mich erwartete, stockte mein Atem.
Nirgends eine Spur von Hispaniens vertrauten Bergen.
Unser Zelt stand inmitten der anderen auf einem sanft geneigten Grashang. In Blickweite senkten sich bewaldete Kuppen einem endlosen Silbermeer entgegen. Hier und da malten sich dunkle Striche an den Horizont. Inseln?
Merkwürdig, mein Schreck blieb gedämpft. Hatte mir Durgal etwas in den Wein getan, was mir nun eine abgeklärte Ruhe gab? Lag es daran, daß ich ja wußte, wo wir weilten? Oder daß Cassia im Zelt hinter mir schlief? Ich war gesichert...
Ich wandte mich nach rechts und links. Rings um die Wiese wuchsen eigentümliche Bäume, die bei flüchtigem Hinschauen Tannen und Fichten ähnelten. In größerer Entfernung schimmerten nackte Felsen, blaugrau getönt und stark zerklüftet ein besonders auffälliger Berg war fast weiß und ziemlich hoch.
Vor Bestürzung schloß ich die Augen, öffnete sie wieder. Das war das versprochene Ziel?
Unwillkürlich blickte ich zum Himmel empor. Heiß, aber von einem ungewohnten Goldrot stand die Sonne im Zenit. Am dunkelblauen Firmament trieben winzige weiße Wölkchen.
Schreie rissen mich in die Wirklichkeit zurück. Zwischen den Zelten rannten Leute ziellos umher. Ich sah ihre verstörten Gesichter und erkannte diesen und jenen. Ja, alles lief nach Durgals Plan aber wie nun weiter?
Ich kroch vollends aus dem Zelt und stand auf. Meine Knie waren weich wie nach einem langen Schlaf.
Hundert fremde Gerüche drangen auf mich ein. Direkt neben meiner Unterkunft stand ein wagengroßer Busch, besät mit unzähligen Blüten von tiefdunklem Blau. Angenehm würziger Duft entströmte den großen Kelchen. Die Blätter waren etwa so grün wie die des hispanischen Flieders, aber größer und gelappt. Die Äste wurden von schwach rissiger, bräunlicher Rinde umhüllt. Ich kannte den Strauch. Woher? Nicht von daheim. Cystalla, ja, Cystalla hieß er. Jetzt wußte ich es wieder. Durgal hatte ihn mir beschrieben. Die Blütenform bestätigte es. So etwas wuchs nicht auf Erden.