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Mit aller List seiner Erfahrung suchte der Römer nach Lauschern und wählte ein Versteck, das kein Vorbeireisender sehen konnte. Ihm hingegen bot es einen vorzüglichen Blick auf die Straße und auf den abzweigenden Weg über die Sebethusbrücke ins Vesuvmassiv und weiter nach Herculaneum.

Servianus fühlte sich zu öden Tempeln hingezogen. Eine ähnliche Ruine viele Tagereisen entfernt im verfallenen Ausona in Nordcampanien hatte seinen Racheschwur gehört. Jedes Heiligtum mahnte ihn daran. Von Zeit zu Zeit zwang er die Erinnerung zurück, stets dann, wenn sein Gewissen ihn bedrängte. »Was bist du für ein Mensch?« Nicht immer war er dieser Servianus gewesen.

Vor nunmehr gut sechs Sommern half der Bauernsohn Primus Marcisus seinen Eltern im Dorf Forum Popili in Nordcampanien. Für treuen Dienst in Syrien hatte Vater Marcisus das Gut erhalten. Einmal fuhr der fast Erwachsene für wenige Tage nach Capua, um verschiedene Dinge zu erledigen.

In der ersten Nacht seiner Abwesenheit vergewaltigte der Senator Quintus Vescillus seine Schwester. Das raubte der Vierzehnjährigen den Verstand; als man sie des Morgens fand, gab es weder Kläger noch Zeugen gegen den Mächtigen, dessen Sommervilla nahe dem Dorf an der Straße nach Teanum prunkte.

Wiewohl jedermann den Sachverhalt kannte es war ja nicht der erste Fall dieser Art -, verurteilte der Richter von Teanum den Bauern Marcisus wegen Verleumdung zu einer ruinierenden Geldstrafe. Noch am selben Tag beendete ein von der Erregung ausgelöster Schlaganfall das Leben des Verarmten. In jäher Aufwallung erhängte sich die Witwe... und der anderntags zurückkehrende Siebzehnjährige stand vor dem Nichts.

Ein Fall unter vielen.

Mit leeren Händen gegen den Senator und dessen Advokaten anrennen? Er knirschte den lodernden Haß hinunter, akzeptierte den Gerichtsspruch und ging davon auf Nimmerwiederkehr. Aus Primus Marcisus wurde Servianus; und im Tempel des nahen Ausona schwor der junge Mann Rache, da es kein Recht gab.

Wenn jemand solche Mächtigen fällen konnte, dann waren es die verhaßten Träger des dreibuchstabigen Siegels. Er trat in das Kaiserliche Geheimbüro ein und hoffte auf Revanche.

Eines Tages entdeckte er eine bedeutungslose Verschwörergruppe. Der Spion nutzte die Gelegenheit mit allen Mitteln seines Amts, verfälschte Beweise, manipulierte Indizien, bis

alles echt wirkte... und dem damaligen Kaiser Vespasianus unterbreitet werden konnte: Hochverrat.

Daß Quintus Vescillus erst unter der Folter gestand, was er zuvor leidenschaftlich bestritten hatte, scherte niemand; in einem spektakulären Prozeß wurden er und ein Dutzend Mitwisser verurteilt und ans Kreuz genagelt. Servianus stand in der Reihe der Kronzeugen und sah dem langsamen Sterben des einst Mächtigen mitleidlos zu. Marcisa war gerächt.

Doch: Auf diesem Weg gab es weder ein Abweichen noch ein Zurück. Welch ein Leben! Niemand hielt ihn mehr für Mitte Zwanzig.

Der Spion versuchte sich das weiße, erloschene Gesicht der Schwester ins Gedächtnis zurückzurufen, die oft heraufbeschworene Rechtfertigung. Es mißlang. Immer mengten sich Tillias unbekümmerte Züge hinein.

Vergangenes war dahin, er mußte an die Gegenwart denken.

»Was ist zu tun?« überlegte er halblaut. »Recht für alle muß man erreichen, alles übrige heißt nur neue Namen für das alte Elend ersinnen. Wie aber? Die Söhne des Feuers wissen keinen Weg dorthin. Gibt es überhaupt einen? Ging ich sechs Jahre lang in die falsche Richtung? Wäre es klüger gewesen, sich der ersten spontanen Revolte gegen die Willkür der Mächtigen anzuschließen und alsbald durch Schwert, Dolch oder am Kreuz zu sterben?« Heftig schüttelte er den Kopf. Blinde Tat führte zu nichts, auch der gerechteste Haß verlangte kaltblütige Verwirklichung. Andernfalls lebte Vescillus heute noch.

»Ich unterschlug Fakten, erklärte Mitwisser zu Schuldlosen und umgekehrt. In dieser Welt, wo das Recht der Macht gehorcht, ist Ehrlichkeit nichts als eine gefährliche Dummheit. Mag sein, es gelingt mir, Tolumnius vor der Strafe zu bewahren. Er sucht wenigstens neue Wege und verdient deshalb eine Schonfrist, um seinen Verstand für Besseres zu nutzen. Das Mädchen? Nun ja...« Servianus lächelte. Er lächelte selten so.

Von Westen her nahte ein Reiter. Die Rüstung verriet den Offizier, und der Spion erkannte bald den Hafenkommandanten von Neapolis. Die ungeliebte Arbeit rief. Noch einmal prüfte er, ob nirgends ein Lauscher weilte, dann trat er aus dem Versteck.

Der Präfekt zügelte das Pferd und erwiderte den Gruß, ohne seine Meinung über den Zivilisten aus der Miene zu verbannen. »Oberst Plinius Secundus aus Misenum befahl, dir zwei Briefe zu übergeben. Aber ich muß sichergehen, daß sie nicht der Verkehrte bekommt. Zeig mal deine Legitimation her, Bursche!«

Gleichmütig zückte Servianus die gestempelte Bronzeplatte.

»Kaiserliches Geheimbüro... hm. Ein Gestank ist heute in der Luft!« Er spie aus. »Da, die zwei Rollen, Horcher!«

Auch diese Kränkung nahm der Blondschopf hin. Selten behandelten ihn die höheren Offiziere anders. Dieser war nur deutlicher als seinesgleichen. Aber er brauchte ihn.

Als er nach der vorigen, vierten Recherche, in Puteoli, die Nähe Misenums verließ, hatte er mit dem Stützpunktobersten ausgemacht, die einlaufende Post vorerst nach Neapolis weiterzuleiten. Es wäre hirnverbrannt, wollte er zu jeder Nachfrage fünfundzwanzig Meilen weit reisen. Glücklicherweise existierte in Neapolis eine Außenstelle des Flottenkommandos. Deren Leiter benötigte nur wenige Meilen bis zum Treffpunkt.

Er entsiegelte die Briefe. Sulpicius Verus teilte lakonisch mit, in Präneste habe man drei Männer festgenommen, die der Rebellengruppe zuzurechnen seien. Indizien sprächen dafür, daß auch der gesuchte Gratha nächstens dort eintreffen werde. Man vermute ihn derzeit an der campani sehen Küste; da er wohl gewarnt sei, müsse er im Fall einer Begegnung umgehend und um jeden Preis verhaftet werden. Fünf gefundene Adressen folgten der Name Tolumnius aus Acerrä fehlte.

Das zweite Schreiben war die Kopie einer Aussage. Ein Kaufmann Cilnius Länas aus Vulci gab freiwillig zu Protokoll, er distanziere sich von den Söhnen des Feuers, weil ihm bewußt sei, daß deren Ziele dem göttlichen Recht widersprächen. Daß sie gar Sklaven in ihre Reihen eingliederten, habe ihn veranlaßt, sich der Gnade des Kaisers... Servianus las nicht weiter.

»Sulpicius ist soweit wie ich«, brummte er.

Der Offizier zuckte die Achseln. Seines Erachtens war dieser Kerl ein überflüssiges Werkzeug. Warum sonst hätte man explizit angewiesen, gerade ihm die angelaufenen Maßnah men zu verschweigen?

Seit dem Morgengrauen herrschte sogenannter Stabsalarm. Versiegelte Befehle waren den Kapitänen von zehn zu einer Routinefahrt nach Stabiä ausgelaufenen Kriegsschiffen übergeben worden: morgen bei Sonnenaufgang zu öffnen. Zu derselben Stunde würde die gesamte Marinebasis in Alarmzustand versetzt werden. Zwei Kohorten waren angeblich zu Übungsmärschen nach Atella und Nola unterwegs. Von dort aus sollten sie und auch die Seesoldaten der Penteren den Vesuv weiträumig einkreisen und das Waldgebiet durchsuchen.

Was dort zu finden war, deuteten die Befehle nur an; der Präfekt war gescheit genug, um durchaus richtig zu mutmaßen. Es ging um jene Unruhestifter, von denen in Campanien getuschelt wurde. An Soldaten und Offiziere waren Aufrufe zum Beitritt verteilt worden erfolglos, soviel er wußte. Weniger klar war ihm, weshalb das Kaiserliche Geheimbüro einen weitgehend bevollmächtigten Agenten entsandte, ihn jedoch desavouierte. War man einem Verräter auf der Spur? Dann freilich...

»Hast du mir eine Meldung zu machen oder eine Antwort für deinen Vorgesetzten zu übergeben?«

»Erst in drei oder sechs Tagen.«

»Das dachte ich mir gleich.« Um den Mund des Reiters zuckte Hohn. Der Verräter wollte offenbar Zeit gewinnen.