Keine zehn Schritte entfernt weidete ein schreckenerregendes Tier. Das war die langhalsige Echse, die mich vorhin so entsetzt hatte! Zum Glück wandte sie uns den Rücken zu und riß büschelweise Farne und Palmwedel ab.
Ich hielt mich irgendwo fest. Wie war es möglich, das zu sehen, als wäre es wahr? Ein Film? Unsinn, so eine Vielfalt gab es in keinem Film! Und der Hals vorhin... Also wahr? Ausgeschlossen. Und doch...
»Das ist die eine Welt«, klang Liliths Stimme aus einer ungewissen Nähe. »Hier, unter Sauriern und anderen Vorzeittieren, hat Walter etliche Geschichten angesiedelt. Ob sie literarisch gelangen, müssen Sie mit ihm erörtern. Sie sehen aber selbst, er brauchte nur aufzuschreiben, was sich ihm darbot. Nichts ist erfunden, nichts falsch. Kommen Sie zum nächsten Fenster!«
Jemand zog mich sacht zurück und plötzlich fand ich mich wieder im Wohnzimmer. Jetzt erst bemerkte ich, daß der Halt, den ich vorhin erfaßt hatte, Liliths Schulter war. Erschrocken ließ ich sie los.
Nach einer Atempause führte sie uns beide zum Mittelfenster des Erkers. Dort begann dasselbe Schauspiel aufs neue: wieder der Nebel, wieder das ruckartige Erscheinen einer unbekannten Welt.
Diesmal war alles ganz anders.
Hohe Steinmauern ragten in einen grauen Regenwolkenhimmel, kalt und mitleidlos und ohne künstlerische Ambition gefügt. Schwarz gähnende Luken waren die Fenster. Häuser, Türme und Zinnen umringten einen Hof. Auf den Wehrgängen und unten wandelten merkwürdig gekleidete Menschen, bewaffnet mit Lanzen und Schwertern und in altertümliche Rüstungen gehüllt. Ritter! Eine Burg! War etwa dies der Ort, von dem Walter Krantz vorhin gesprochen hatte?
In einer finsteren Ecke hockten Gefesselte, von Männern mit langen Spießen bewacht. Bisweilen drang; ein Laut wie fernes Schreien an mein Ohr. Ja, davon hatte Krantz mir erzählt. Ich sah jetzt, was auch er gesehen und beschrieben hatte. Ob nun jemand kommen und den erwähnten Scheiterhaufen errichten würde?
Als ob ich selbst es befohlen hätte, öffnete sich ein Balkentor unterhalb des massigen Hauptturms. Von Bewaffneten geführt, quoll ein Zug ärmlich Gekleideter in den Burghof. Sie trugen Stapel von Holz und Reisig auf den Schultern und warfen sie in der Platzmitte ab. Andere schichteten das Brennmaterial zuhauf. In böser Eile entstand ein...
Nein, das wollte ich nicht sehen. Nicht das! Ich riß mich zurück.
»Dort wütet das Mittelalter«, bestätigte Krantz, ehe ich ein Wort hervorgebracht hatte. »Sie erinnern sich: Was dort geschehen ist, erzähle ich gerade.«
»Gräßlich!«
»Soll man es deshalb verschweigen? Lilith, könntest du unserem Gast auch eine Dämonenwelt vorführen?«
Sie betrachtete mich prüfend und schien einen Moment zu überlegen. Oder tat sie etwas ganz anderes? Ich fürchtete es beinahe. Dann faßte sie meine Hand und zog mich zu einem Fenster. »Schauen Sie!«
Hinter dem ungewissen Lichtschimmer erschienen unversehens schwarze Felszacken. Ein purpurroter Himmel leuchtete wie eine Schale glühenden Eisens. Metallblitzende Vögel kreisten um die Schroffen und schleuderten rote Reflexe. In den Abgründen bewegten sich graue und weißgrüne Schemen, flössen ineinander wie Wolken. Etwas Grauenerregendes lag in dieser träge schwappenden Bewegung. Plötzlich schoß ein bunter Blitz empor... und ein strahlendes, himmelstürmendes Schloß stand da, umgeben von Gärten und Seen, schön wie ein Märchen. Noch ehe ich ein Wort des Staunens sagen konnte, begann das Wasser der Seen bergan zu quellen. Die metallenen Vögel stürzten sich auf die Türme und hackten darauf ein. Die goldenen Spitzen krümmten sich wie in schmerzhafter Abwehr. Gestaltlose Wolken entquollen der Erde, fraßen sich in die stolzen Mauern, bis sie wie Sand zusammenfielen und sich in wogenden Nebel verwandelten. Abermals blitzte es regenbogenfarbig; und aus dem grauen Dunst schälte sich die Gestalt einer schönen Frau, in reiche Gewänder gekleidet, ein blitzendes Diadem im Haar. Ihr Gesicht war mir irgendwie bekannt. Sie hob die Hand zum Gruß, als wenn sie uns sähe. Ja, ich kannte sie aber woher? Kaum erstanden, zerfiel sie in sprühende Splitter. Roter Dampf verhüllte die Landschaft. Nur der brennende Himmel mit den blitzenden Vögeln blieb erhalten.
Mir schwirrte der Kopf. Wer das lange ansah, büßte den Verstand ein. Träume von Geisteskranken! Ich wich durch den Nebelschleier zurück. »Was... Was ist das?«
»In Worte läßt sich das nur schwer fassen«, meinte Krantz zögernd. »Ich habe die Szenerie vorläufig Dämonenwelt eins genannt. Das ist freilich bloß ein Name. Was da passiert, ist mir vollkommen unklar; und Lilith äußert sich nicht dazu. Mit unseren Maßstäben kann man das wohl überhaupt nicht erfassen.«
»Versuchen Sie mit dem Vokabular Napoleons die innere Funktion eines Taschenrechners zu beschreiben«, ergänzte sie bedauernd.
Ich wußte keine Antwort. Was hätte ich sagen können! Ich schlich zum Sessel zurück, ließ mich hineinfallen und atmete erstmals ruhiger. Ein richtiger Tisch, ein richtiger Ofen, richtige Teller und Tassen keine Spukwelt.
»Ich könnte Ihnen noch mehr vorfuhren«, sagte Lilith und setzte sich zu uns. »Meine Möglichkeiten reichen weit, und Sie brauchen keine falsche Bescheidenheit zu zeigen, Herr Meier. Nein? Nun gut. Jedenfalls werden Sie mir zugeben, daß Walter immer Wirkliches beschrieb.«
Trugbilder wirklich? Aber ich vermochte nichts einzuwenden. Der träge Saurier, das menschenverachtende Geschehen auf jenem Burghof, das Spiel der Horrorfiguren in der Welt des feuerroten Himmels... Irgendwie wirklich war das schon. Aber es erzeugte blankes Grauen.
Ich schloß die Augen, um mich zu sammeln. Doch meine Erregung verstärkte sich. Denn nun zeigten sich die irrsinnigen Geschehnisse nur noch schärfer... Jene Frau, war das nicht Gisela, meine vor vier Jahren verstorbene... ?
»Nicht wahr, darüber lohnt sich doch zu schreiben!« hörte ich Krantz neben mir schwatzen. »Was sich da erzählen und beschreiben läßt! Wir haben gemeinsam einen Roman begonnen: die Erlebnisse einer Gruppe, die ein Zufall in diese bösartige Welt schleudert. Wir haben dazu weitere Szenerien studiert und manches von den anderen übernommen lebende Gebäude in einer Ruinenstadt, die auf verirrte Wanderer lauem, und einiges mehr. In zwei, drei Monaten haben Sie das Manuskript auf dem Tisch.«
Ich rieb mir die schmerzenden Augen. Lilith hatte die Beine übereinandergeschlagen. Ihre Finger spielten mit einer Falte ihres Seidenkleides, und der Fuß wippte kaum merklich.
»Frau... Lilith, warum tun Sie das? Es muß doch einen Grund haben.« Zu diesem Grund wollte ich dringen. Wo lagen die Motive, wo der Anfang?
Sie zögerte, befrachtete die bebenden Orchideen. »Darüber kann ich nicht frei sprechen«, erwiderte sie aufblickend. »Nennen Sie es meinetwegen ein Dienstgeheimnis. Bedenken Sie bitte, ich bin ein Geschöpf der Unterwelt oder vielleicht einer anderen Welt oder gar einer anderen Zeit. Die Herkunft tut nichts zur Sache. Ich habe auch Walter gegenüber nichts von meinen tieferen Beweggründen gesagt, weil die in eine andere Kategorie gehören. Meine Mission wurde daheim lange erörtert und gegen scharfen Widerspruch beschlossen. Eines gilt: Keinem wird Schaden zugefügt, Ihnen nicht und dir nicht.«
»Schon, schon, aber... Ich meine...«
»Ich darf soviel sagen, daß mein Auftrag eine Art... Warnung ist. Sie werden mich gleich mißverstehen und annehmen, die Hölle wollte die Menschheit zu etwas verführen, vor dem sie nun der Himmel bewahren muß. Leider steht es so in tausend antiken Schriften. Nicht das ist unser Ziel.
Wir wollen etwas ändern. Was und wohin, kann ich Ihnen nicht sagen.
Eine Form ist die Bestrafung von Schuldigen, und zwar in der winzigen Spanne zwischen dem Anfang und dem Ende des Sterbens. Glauben Sie ja nicht, das sei auch für denjenigen kurz, der das durchleidet. Diese Lücke regieren wir.« Ihre letzten Worte klangen hart. Sie legte eine Pause ein. »Zum Beispiel mit solchen Welten.«