Kündigung.
Das neue Werk mag Krantz auf die nächsthöhere Ebene der Literatur heben oder gar auf den Parnaß; aber ich will damit nichts zu tun haben, und mit ihm schon gar nicht. Ich gab ihm den letzten Rat und den Anstoß. So weit reicht nach meinem Verständnis die Fairneß einem Verlag gegenüber, in dem ich lange und gern gewirkt habe.
Und ich überwand mich, diesen Brief zu schreiben, sehr geehrter Herr Krueger, zumal wir nicht nur dienstlich, sondern auch privat miteinander harmonierten. Ich finde, Sie haben ein Anrecht darauf, das wahre Motiv meiner Kündigung zu kennen. Was Sie mit dem Wissen tun, überlasse ich Ihrem Taktgefühl.
Natürlich glaube ich nicht an Hölle, Teufel und Verdammnis. Ich denke vielmehr, daß dies der vielberufene Kontakt ist; wir haben ihn nur stets primitiv in den Weltraum verlegt. Sie sind da und lernen uns im stillen kennen, um dann die Karten aufzudecken. Wer sie sind, woher und warum so? Sicher wissen sie mehr über fremde Leben als wir und also über die Probleme einer Kontaktaufnahme. Einem Schreiber wie Krantz begegnen sie als Höllenboten, einem Wissenschaftler erscheinen sie womöglich als halbintelligente Strukturen im Elektronenrechner.
Mag sein, ich habe alles falsch begriffen; mag sein, ganz andere Zusammenhänge spielen mit. Aber mein Entschluß lautet: billigend schweigen, nicht mittun. Mehr kann nur ein Dämon wie Lilith.
Es klingelt, ich beende also den Brief mit freundlichen Grüßen auch an Ihre Frau Gemahlin und mit der Bitte um Verständnis
Arnold Meier
PS:
Die junge Frau Cynthia, die Anhalterin, hat mich soeben verlassen. Der Regenbogen-Verlag sucht einen berufserfahrenen Mitarbeiter für eine Edition es handelt sich um Titel, bei denen eine Einheit von Text und Illustration angestrebt wird, gewissermaßen das absolute Kunstwerk. Man hofft auf breite und tiefe Wirkungen bis hinein ins Unterbewußtsein des Lesers. Die vorgelegten Beispiele faszinierten durch Qualität und Eindringlichkeit. Frau Cynthia hatte keine Mühe, mich dafür zu begeistern.
Ich sagte zu, den bereits vorgemerkten Gesprächstermin wahrzunehmen. Wie Sie wissen, kommt solch ein Projekt meinen Intentionen außerordentlich nahe. Literatur und bildende Kunst sind zwar kaum zu verschmelzen, doch es ergäbe ein erstrebenswertes Resultat. Mit einer so begabten Malerin und Grafikerin an dieser Aufgabe zu arbeiten, ist allein schon Erfüllung eines Lebenstraums und jeder Teilerfolg in meinen Augen ein Sieg. Es klingt absurd, aber ich bin dem schockierenden Erlebnis bei Krantz dankbar; indirekt wies es mir den Weg zu etwas Neuem. Wir möchten Schönheit darstellen, also eine Harmonie von Geist und Körper, von Irdischem und Kosmischem. Uns beiden erscheint das dringlich, da dies Zeitalter mit seiner Regentschaft der Technik das Denken und Fühlen einzuschnüren versucht. Das darf nicht geschehen.
Unter den gegebenen Umständen möchte ich nicht kündigen, sondern, mit beiden Verlagsleitungen abgestimmt, einen Überleitungsvertrag abschließen. Die formelle Kündigung lasse ich demgemäß fort, möchte aber diesen Brief nicht neu schreiben; vielmehr können Sie daraus die Entwicklung der Dinge erkennen.
Ich hoffe auf Ihr Verständnis, Herr Krueger, wenn ich meinen Lebenstraum jenen Spukgeschichten vorziehe.
A. M.
Der Haltepunkt
Diese Strecke wurde fast nie befahren. Es war unklar, weshalb sie überhaupt noch bestand. Man hatte den Bahnhof zwar an das allgemeine Netz angeschlossen, aber selbst das Anschlußgleis war verrostet und grasüberwachsen. So gut wie nie bestieg ein Fahrgast den Pendelwagen.
Ich stand auf dem Bahnhof. Es war ein warmer Sommernachmittag, und es gab nichts, was mir die Zeit vertrieben hätte. Das Städtchen sonnte sich in feiertäglicher Stille, die Geschäfte und Cafes waren entweder geschlossen oder gähnten vor Leere. Es war die Tageszeit, in der überhaupt nichts geschieht. Alles dies war nicht ungewöhnlich, stellte vielmehr die Regel dar.
Und so stieg ich kurz entschlossen in den leeren Wagen ein so recht in der Stimmung, nichts zu tun, mich treiben zu lassen und in der Weltgeschichte herumzufahren.
Der Wagen war weder alt noch neu; das Zeitlose der Eisenbahnausstattung haftete ihm an und war so tief in ihn eingedrungen, daß für ihn Dienstjahre nicht galten. Seine Polster waren aber weich, und ich setzte mich, entschlossen, die Dinge auf mich zukommen zu lassen.
An der Wand hing ein Fahrplan. Wenn er noch stimmte, würde es alsbald losgehen. Stimmte er nicht, war es auch nicht schlimm. Nichts ist so schön, wie in einem gemütlichen, bequemen Eisenbahnwagen zu sitzen und auf die Abfahrt zu warten, wenn man es gar nicht eilig hat. Man kann dann an alles und jedes denken und dem Leben gleichsam zuschauen.
Ich drehte mich um, als ein älterer Herr in Eisenbahneruniform hereinkam. »Hallo!« sagte er freundlich. »Ist also doch wieder mal jemand da! Sie sind der erste in dieser Woche.«
Wir schrieben Mittwoch, und bei dem Gedanken daran konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Ist das immer so?«
»Ja«, erwiderte er und setzte sich auf die Bank mir gegenüber. Mit einem Blick auf die Uhr stellte der Fahrer zweifellos war er das fest, daß noch eine Weile Zeit war. »Ja, die Strecke führt bloß zu einigen Flecken und ein paar einzelnen Gehöften. Ich habe gehört, daß der Betrieb demnächst eingestellt werden soll.«
»Schon möglich, wenn sie sich so wenig rentiert«, pflichtete ich ihm bei. Daß niemand weiter einstieg, sah ja jeder.
Der Eisenbahner wiegte den Kopf und betrachtete mich, ein feines Lächeln um die Augen. »Ihr Beruf hat nichts mit Schiene oder Straße zu tun, nicht wahr?«
»Nein, ich bin Sachbearbeiter bei einer Versicherung.«
»Aha... ja, da können Sie das auch nicht verstehen. Sehen Sie, ich habe den Beruf eines Eisenbahners aus Leidenschaft gewählt. Ich fahre gern mit dem Triebwagen hin und her und her und hin.«
»Wird das mit der Zeit nicht langweilig?«
»Den meisten Menschen ja. Mir ist es nicht leid geworden. Die Strecke ist kurz, zugegeben, aber sie ist jedesmal anders. Im Frühling fahre ich durch ein Blütenmeer die verwilderten Gärten, wissen Sie? -, im Sommer ist alles strahlend grün; zeigt der Herbst mir dann gratis eine Farbenpracht, wie sie nicht ihresgleichen hat, so ist das schon wieder ganz anders. Und im Winter spürt man die Einsamkeit dieser Gegend doppelt. Ich habe sie alle gesehen, die fortfuhren, um nie wiederzukommen. Die Dörfer sind verödet, die Gehöfte verfallen nur die Bahn, sie ist geblieben.«
Er sann noch lange, dann riß er sich aus seinen Gedanken und stand auf. »So, es geht los. Wollen Sie mit nach vorn kommen, zu mir in die Kabine? Man sieht mehr von Strecke und Landschaft.«
Ich nickte und folgte ihm.
Der Platz des Beifahrers war frei. Er räumte einige Bücher und Hefte beiseite und zeigte mir, wo ich den Regenmantel aufhängen konnte. Dann nahm auch er Platz und betätigte die Abfahrtsklingel. Niemand war gekommen, um dem Zug die Strecke freizugeben. Selbst das Signal hing verrostet am Mast. Es stand auf Halt!, was mir zu denken gab.
»Ich verstehe ja nichts davon, aber muß nicht erst die Strekke frei gemacht werden?«
»Sie ist frei seit vielen Jahren. Es verkehrt nur dieser Wagen im Pendeldienst. Als er vor einiger Zeit zur Reparatur war, hatten wir einen anderen zum Ersatz. Es gibt keinen zweiten Zug auf der Strecke.«
»Und wenn die Gleise beschädigt sind? All die Schranken und so weiter, das muß doch betätigt werden!«
»Einen Schaden würden wir sehen. So schnell fährt der Wagen gar nicht. Hier hat es niemand eilig: die Zeit nicht, die Menschen nicht, das Leben nicht warum sollte ausgerechnet ich es eilig haben? Niemand wartet auf den Haltepunkten, um etwa zuzusteigen. Die Post wird vom Postauto befördert, wir haben damit nichts mehr zu tun.