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Im Grund ist diese Strecke mit dem Pendelwagen ein Unikum, ein Relikt aus dem vorigen Jahrhundert, wenn Sie so wollen. Sie nützt niemandem mehr, kostet nur Geld wenig Geld freilich.«

Der Triebwagen ruckte sanft an und holperte über eine Weiche aus dem Bahnhof. Noch eine Weile waren Eisenbahnanlagen zu sehen, dann führte die Strecke in ein Gewirr von Gärten. Blumen rankten sich um Pfeiler und durch die Tore, riesige

Stauden säumten die Gleise. Mitunter konnte man in einer Kurve so gut wie gar nicht voraussehen. Wenn jemand nicht aufpaßte... aber da der Zug derart selten fuhr, kannten sicher alle Leute in dieser Gegend die Fahrzeiten. In der Tat sahen wir hin und wieder Menschen, die von der Gartenarbeit aufblickten, um den Rücken geradezubiegen und uns zuzuwinken.

Nach und nach verloren sich die letzten Häuser, und der Triebwagen fuhr in die offene Landschaft hinaus. Sie war schwach hügelig, mit Wäldern und wilden Fliederbüschen bewachsen. Seltener waren Eichen verschiedenster Art, vor allem Korkeichen.

Wir fuhren ziemlich langsam. Der Fahrer sah ebensogem alles zum tausendsten Male wie ich zum ersten. Dazu gehört mehr Freude an der Umwelt, als ich besitze. Man muß wohl sehr phantasiereich sein, wenn man immer wieder von neuem all das kennenlernen will, was man schon so oft gesehen hat.

»Ich habe ganz vergessen zu fragen, wo ich Sie absetzen soll«, sagte der Eisenbahner nach einer Weile, als der Wagen leise quietschend eine lange Kurve passierte.

»Ach, nirgendwo. Ich wollte nur spazierenfahren, alles sehen, was ich nicht kenne. Hin und zurück.«

»Jetzt wird mir auch klar«, erwiderte er lächelnd, »wieso ich Sie nicht kenne. Und ich grübelte schon... Die wenigen, die hierherkommen, kann ich nämlich im Schlaf benennen. Bei Ihnen überlegte ich hin und her und konnte mich nicht besinnen. Na, so etwas. So fahren Sie also zum erstenmal auf dieser Strecke?«

»Ja.«

»Dann kann oder eigentlich: muß ich Ihnen etwas zeigen. Jetzt noch nicht, später. Denn ich fahre diese Strecke auch aus einem anderen Grund so gern, nicht bloß wegen der allerdings schönen Landschaft.«

Ich blickte ihn fragend an.

»Da Sie ja nicht von hier sind, wird Ihnen mein Name kaum etwas bedeuten. Ich heiße Calin. Calin mit C am Anfang.«

»Aha.« Genausogut hätte er jeden anderen Namen tragen können; ich kannte ihn nicht. »Angenehm.« Und ich stellte mich meinerseits vor.

Wir hatten inzwischen eine weitere Kurve durchfahren, und der Fahrer drückte den Bremshebel nieder. Der Wagen kam langsam zum Stehen. Vor uns lag ein Haltepunkt, an dessen Bahnsteig wir anhielten. Alles war öde und verfallen, niemand wartete auf den Triebwagen.

Am Stationsgebäude fehlte die Hälfte der Fenster, die andere Hälfte war zerbrochen. Wilder Wein umrankte die Mauern und blockierte die nahebei stehende Bahnschranke. Da niemand den Ranken wehrte, mochte die Landstraße so vergessen sein wie die Eisenbahnstrecke.

»Keiner da. Fahren wir weiter«, sagte Calin melancholisch und lockerte die Bremsen. Während der Wagen wieder das alte langsame Tempo erreichte, erzählte er mir die Sache.

»Die nächste Station ist es. Da werden Sie es sehen. Vielleicht fünfhundert Meter vorher führt die Strecke aus einem Einschnitt hinaus, und man sieht alles auf einen Blick. Schauen Sie genau hin, und Sie werden etwas Seltsames bemerken. Merkwürdig dabei ist, daß man es nur beim erstenmal sieht, später erscheint der Effekt nie wieder.«

Ich stutzte. Das klang recht verworren. Entweder ist ein Ding da, oder es ist nicht da. Wie kann es beim ersten Hinsehen da sein beim zweiten hingegen nicht mehr? Ich fragte ihn.

»Das Wie kann ich Ihnen nicht erklären«, murmelte er. »Ich kann es eigentlich niemandem erklären, ich habe bloß gesehen, daß es so ist; vielmehr habe ich es eben nicht gesehen.«

»Was nicht gesehen?«

»Ebendas ist schwer zu sagen. Am besten schauen Sie es sich selbst an. Wir sind gleich da.«

Vor uns lag eine Hügelkette, so dicht mit Gebüsch bewachsen wie die anderen vorher. Wäre ich zwanzig Jahre jünger gewesen, hätte diese Gegend den vortrefflichsten Spielplatz der Welt für mich abgegeben. Stellenweise war der Flieder an die fünf, sechs Meter hoch. Dazwischen standen Bäume, die sich gewiß hervorragend als Ausguck eigneten.

Die Strecke führte in einen Einschnitt, offenbar den, den Calin vorhin gemeint hatte. Es wurde etwas düster darin, und der Fahrer betätigte das Signal, um jedweden auf den Gleisen zu warnen. Außerdem mäßigte er das Tempo.

Ich war einverstanden damit, denn wenn wirklich etwas zu sehen sein sollte, war ein schnelles Fahren dem Betrachten nur abträglich. Wenn! Das alles schmeckte mir zu sehr nach Märchen oder gar Effekthascherei.

Vorn wurde es heller. Calin deutete mit der Hand nach rechts. »So, nun schauen Sie hin!«

Mit Schrittgeschwindigkeit verließ der Triebwagen den Einschnitt. Rechts und links breitete sich die Landschaft aus. Hier standen nur hin und wieder Büsche und Sträucher; Wiesen herrschten vor. Das auffallendste war eine Ruine, wohl ein ehemaliges Landhaus, das in einer Niederung lag. Hinter ihr befand sich ein See, umwachsen von Schilf und Rohr.

Ein Boot schwamm auf der spiegelnden Fläche. Es war zu weit entfernt, als daß ich die beiden Menschen, die in ihm saßen, genau zu beschreiben vermag; doch schien es mir, daß es eine Frau und ein Mann waren.

Unvermittelt holte die eine Gestalt aus und schlug der anderen mit irgendeinem Gegenstand auf den Kopf. Dann stieß er sie ins Wasser. All das hatte nur einen Augenblick gedauert. Dann versperrte uns ein Fliederbusch die Sicht.

»Was war das?«

»Ich habe nichts Besonderes bemerkt«, versicherte Calin. »Aber ich weiß selbstverständlich, was Sie gesehen haben. Alle

sehen diesen Mord oder auch Totschlag oder was immer Sie wollen. Aber jetzt! Schauen Sie hin!«

Der Blick auf den Teich war wieder frei doch von dem Boot konnte ich keine Spur entdecken. Das Wasser lag still und glatt da. Dabei hätte der Täter übermenschliche Kräfte haben müssen, um in der kurzen Spanne, in der uns der Busch die Sicht nahm, den Kahn an Land zu rudern.

»Wir sind gleich da«, bemerkte der Fahrer, als ich verwirrt schwieg. Er bremste den Wagen ab. Ein Haltepunkt, womöglich noch verkommener als der vorige, lag vor uns. Auch hier stand niemand auf dem grasüberwachsenen Bahnsteig. Ich sah mich mißtrauisch um aber nichts war auf irgendeine Art ungewöhnlich.

»Erklären Sie mir jetzt bitte, was das bedeutet! Wird hier ein Film gedreht? Handelt es sich um eine Luftspiegelung? Oder was ist los?«

»Was soll ich Ihnen darauf antworten? Wahrscheinlich... wahrscheinlich ist es etwas ganz anderes als das, was es scheint. Nur weiß niemand hier in der Gegend, was es wirklich ist. Ein Film, so kann ich Ihnen versichern, wird jedenfalls nicht gemacht. Das ist gewiß. An eine Luftspiegelung mag ich auch nicht glauben. Immer dieselbe? Denn haargenau das, was Sie eben so erstaunte, haben viele andere ebenso gesehen, stets dasselbe!«

»Hm. Wann kommen Sie zurück?«

»Ich verstehe Sie wollen sich selbst überzeugen. Bitte, aber es ist nutzlos. Moment... hier: genau siebzehn Uhr und dreißig Minuten! Wenn Sie zu der Zeit hier sind aber bedenken Sie, daß der nächste Hof eine halbe Stunde entfernt ist. Und ich komme erst morgen wieder hier vorbei.«

Ich zuckte die Schultern. Was sollte ich in dieser Situation schon sagen? Immerhin mußte ich einmal nachsehen. Womöglich handelte es sich um eine Täuschung. »Ich werde kurz vor halb sechs hier sein ud warten.«

»In Ordnung. Und viel Glück bei der Suche!«

Ich stieg aus. Calin winkte mir zu, dann fuhr der Wagen langsam davon. Ich sah ihm nachdenklich hinterher.

Eigentlich hatte ich mich an der Landschaft erfreuen und keine metaphysischen Betrachtungen anstellen wollen. Um meinen Entschluß zu revidieren, war es nun allerdings zu spät. Im wahrsten Sinne des Wortes war der Zug abgefahren. Zug? ein Vehikel, das in diese Welt ewiger Vergangenheit hineingehörte! Und Calin, dessen mysteriöse Andeutungen mich zu dem Abstecher verleitet hatten, war ebenfalls weg.