Wir verabschiedeten uns, und ich blieb zurück. Die Frage, woher der Schäfer wohl einen derart umfangreichen Wortschatz hatte, blieb ungestellt. Hier in dieser Gegend war alles seltsam, die Landschaft nicht minder als die Menschen.
Ich hörte die Herde davonziehen, dann saß ich allein am Ufer des Teiches des »verwunschenen Sees«, wie Calin sicher gern gesagt hätte. Bis er und sein einsamer Wagen wiederkamen, blieb mir noch eine Menge Zeit. Zu finden war hier freilich nichts.
Während der Unterhaltung mit dem Hirten hatte mir eine ferne, verblaßte Erinnerung im Kopf gespukt. Ich hatte einmal eine Novelle gelesen; der Titel lautete wohl »Das Schloß von Möen«, und auch in ihr ging es um einen solchen Effekt, daß jemand anfangs etwas sah, was dann nicht mehr da war. Bloß hier hatte der Verfasser zum Schluß zugegeben, daß da eine unbewußte Täuschung des menschlichen Auges gewesen war, das eine Symmetrie herstellte, wo sie zerstört war. An die Details erinnerte ich mich nicht mehr aber an diesem Teich lagen die Dinge völlig anders.
Nein, sagte ich endlich zu mir. Hier gibt es nichts, was nur zu vervollständigen wäre. Daß bei flüchtigem Hinsehen die abgebrochene achte Ecke eines achtzackigen Sterns hinzugefügt wird, mag noch angehen. Doch niemals können viele Leute dieselbe Szene erfinden. Immer dieselbe!
Dann war sie also doch wahr?
Mir schauderte ein wenig bei diesem Gedanken, denn damit begab ich mich auf das Glatteis unrealistischer Theorien. Für den Mitarbeiter einer Versicherung, bei der nur Fakten zählten, ziemte sich das schwerlich. Aber an der Existenz eines merkwürdigen Effekts konnte ich nicht deuteln, wenn der unwiderruflich da war. Ob er freilich mit Geistern und Seelen zu tun hatte, stand auf einem anderen Blatt und war zu verneinen.
Ich betrachtete die besonnte Landschaft und überlegte, was wohl an der Mutmaßung des Schäfers wahr und was Phantasie sein mochte. Beweisbar war sicher das wenigste. Die Unglücksfalle nun, mit derartigen Behauptungen ließ sich alles und auch jeweils das Gegenteil belegen. Vielleicht gerieten
hier tatsächlich Wahrscheinlichkeit und Kausalität zugleich außer Ordnung, die beiden gehörten ja zusammen. Ich spazierte einmal rund um den See, so nahe am Wasser, wie es die sumpfigen Ufer erlaubten. Es fand sich absolut nichts Seltsames, lediglich einige Dinge, die die Sucher zurückgelassen hatten Meßlatten, Netzstücke und natürlich ihr Boot.
Also setzte ich mich wieder hin und grübelte. Es war warm, und ich nickte ein wenig ein. Daß ich noch über eine Stunde Zeit hatte, wußte ich; aber bis zum Haltepunkt waren es nur einige Dutzend Schritte, und ich würde den Wagen todsicher hören.
Stimmen weckten mich. Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, unterhielten sich; sie mochten es schon eine Zeitlang getan haben, aber jetzt war ihr Ton heftig.
»Du bist ein Schuft und ein Feigling obendrein!« sagte die Frau verächtlich. Dann hörte ich einen gräßlichen Schrei und war im nächsten Moment auf den Beinen und hellwach.
Auf dem See schwamm das Boot der Suchgruppe. Ein junger Mann etwa in meiner Größe, mit braunen Haaren und einem dunklen, kurzen Bart, in einen grauen Anzug und gleichfarbenen Regenmantel gekleidet schlug mit einem Knüppel auf die bereits Liegende ein. Das alles dauerte etwas weniger als eine Sekunde, und ich begriff weder, wieviel Zeit seit meinem Einschlafen verstrichen war, noch, wann und wie die beiden das Boot bestiegen haben mochten. Ich sah reglos zu, völlig verwirrt. Dann jedoch rannte ich los und stand bereits auf den Resten des Landestegs, als der Mann sein Opfer über Bord stieß. Nur ganz von fern kam mir die Idee, ich sähe jetzt dem Schauspiel aus der Nähe zu und demzufolge sei überhaupt nichts zu tun, weil Geister ja längst tot sind.
»Halt! Bleiben Sie stehen!« brüllte ich aus Leibeskräften und zog meine Schreckschußpistole aus der Jackentasche. »Polizei!«
Der Mörder zuckte zusammen und starrte mich so entsetzt an wie ich ihn. Instinktiv versuchte er zu flüchten. Der See aber war nicht so groß, daß er mir hätte entkommen können. Außerdem sah er die Waffe in meiner Hand, hielt sie für echt und gab auf.
Von seinem Opfer war nichts mehr zu sehen, die Leiche war versunken; vielleicht hatte er sie mit etwas beschwert. Alles war so unheimlich schnell vor sich gegangen, und ich war noch ziemlich schlaftrunken gewesen.
»Kommen Sie an Land, und machen Sie keine Dummheiten!« befahl ich so barsch wie möglich.
Der Mörder widersetzte sich nicht und stieg finsteren Gesichts auf die verrotteten Balken des Stegs.
Ich sah indes auf die Uhr. Höchste Zeit, zum Haltepunkt zu kommen, wenn ich den Wagen nicht verpassen wollte...
An dieser Stelle setzt meine Erinnerung aus, und ich kann die Vorgänge nicht weiter schildern. Ich nehme aber an, daß mich der Mörder in diesem Augenblick überrumpelte und niederschlug.
Als ich wieder zu mir kam, knieten mehrere Menschen neben mir. Ein Polizist erklärte mir, ich sei wegen Mordverdachts an einer jungen Frau er nannte ihren Namen, aber ich wiederhole, daß ich ihn nie zuvor gehört habe festgenommen. Meinen Erklärungen glaubte niemand, und so kam es zu diesem Prozeß.
Selbstverständlich weiß ich, daß die Leiche gefunden wurde. Jetzt! Aber immerhin kann der von mir benannte Zeuge Calin darlegen, daß ich nur deswegen an jenem Haltepunkt ausstieg, weil ich dem oben beschriebenen Phänomen nachgehen wollte.
Ich kann nicht erklären, wieso ich und viele andere Menschen eine Tat gesehen haben, die erst später begangen wurde. Ursache und Folge hatten sich vertauscht, aber nur gelegentlich und nur an einer Stelle. Immerhin ist nunmehr klar, wieso nie ein Anhaltspunkt zu finden war die Tat war schließlich noch nicht verübt. Daß dieser Effekt auftrat, können viele Einwohner der Umgegend bezeugen:
An dieser Stelle möchte ich nochmals auf meinen Antrag hinweisen, den von mir beschriebenen Mann zu suchen. Er ist der Mörder jener Frau, auch wenn er zugegeben mir recht ähnlich sieht, so daß die Zeugen unsicher wurden und weder ja noch nein sagten. Ebenso fordere ich eine Untersuchung des Sachverhalts, wieso der Mord gesehen wurde, bevor er geschah. Das dürfte der Schlüssel zu allem sein...
Das Labyrinth
Es war am letzten Novembersamstag vor drei Jahren, genau vor tausendundeinem Tag. Woher ich...? Sie werden gleich verstehen.
Ich hatte beschränkt dienstfrei, mußte lediglich telefonisch erreichbar sein; ich lag auf der Couch, rauchte und las in einem Kriminalroman. Edith und die Kinder vergnügten sich auf dem Weihnachtsmarkt. Eigentlich hätte ich aktuelle Periodika studieren sollen, aber die Sondereinsätze der vorigen Woche hatten an mir genagt. Mir stand der Sinn nach entspannender Lektüre.
Die Türglocke schrillte. Hatte Edith etwas vergessen, sie, die Zuverlässigkeit selbst? Aber sie besaß doch einen Schlüssel. Die Klinik? Doktor Kant, der Diensthabende, brauchte keine Hilfe mehr. Er würde überdies anrufen, ehe er einen Wagen schickte, mich zu holen. Ein Bekannter? Das paßte mir jetzt gar nicht. Ich legte das Buch beiseite und erhob mich.
Es klingelte abermals, zweimal jetzt und merklich drängend.
»Na, na, nicht so eilig!«
Draußen stand mein Nachbar Hartmann, trat von einem Bein aufs andere, knetete die Hände. Wie sah er aus! Bleich, zerwühlte Haare, verstört, sein Trainingsanzug durchgeschwitzt und verschmutzt.
»Kommen Sie bitte, Herr Wöhler! Ich brauche dringend ärztliche Hilfe. Ganz dringend.«
»Haben Sie sich verletzt?«
»Nein, ein Kind. Ich kann das schlecht erklären. Können Sie gleich mitkommen?« Er lief schon zurück.