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»Sekunde!« Ich hastete ins Bad, wusch mir die Hände, tauchte das Gesicht flüchtig in kaltes Wasser, langte hinter den Flurvorhang und ergriff die bereitstehende Arzttasche.

Bis in sein Wohnzimmer standen die Türen offen. Dort fand ich ihn über das Sofa gebeugt.

Auf den Polstern lag ein vielleicht zehnjähriges Mädchen. Ihr Kleid war zerrissen, ihr hohläugiges Gesicht von Qual, verzerrt. Krämpfe schüttelten den mageren Körper, sie wimmerte matt. Dergleichen gab es in Hungerregionen, mit eigenen Augen hatte ich solch einen Fall noch nie gesehen.

Außer Frage stand, daß die Patientin unter größter Schonung in ein Krankenhaus gebracht werden mußte. Ich vermochte wenig zu tun, untersuchte sie nur auf äußere Verletzungen, stellte ihr vergeblich einige Fragen und injizierte ein Beruhigungsmittel. Nachdem das Dringlichste erledigt war, nahm ich Hartmanns Telefon und wählte die Alarmnummer der Klinik.

Doktor Kant meldete sich. Erstaunt nahm er meinen Bericht entgegen. Er dankte mir für die ersten Maßnahmen der Krankenwagen werde sofort abfahren.

»Die Nothilfe hätten Sie verständigen sollen, nicht mich«, sagte ich zu Olaf Hartmann. »So etwas kann man nicht ambulant behandeln. Das Kind gehört ins Krankenhaus, womöglich in die Intensivstation. Man sollte meinen, das ist offensichtlich.« .

»Schon, aber weil Sie direkt nebenan... Wissen Sie, ich bin derart durcheinander, kann überhaupt nicht klar denken.«

Jetzt spürte ich seinen Alkoholgeruch. »Hochprozentiger, nicht wahr? Sollten Sie nicht, das macht es nur schlimmer. Warum eigentlich? Das war kein Unfall, solche Unfälle gibt es nicht. Herr Hartmann, was ist passiert?«

Der verebbende Heulton einer Sirene kündete den Rotkreuzwagen an. Wenig später klingelte es.

Die Notfall Sanitäter und der Arzt hantierten wortkarg. Ihre knappen Fragen betrafen meine vorläufige Diagnose: kritische Unterernährung mit ihren Folgeerscheinungen. Lebensgefahr bestand anscheinend nicht. Genaues mochte die Klinik ermitteln. Morgen abend, sobald ich wieder Dienst tat, würde ich alles detailliert erfahren.

Hartmann starrte aus dem Fenster. Die mißtrauischen und neugierigen Blicke prallten ab an seinem Rücken. Trotz seines Trainingsanzugs wirkte er gebeugt. Er schwieg verbissen, hatte zum Gruß nur genickt.

»Verbleiben wir so, Kollege Wühler«, sagte der Notdienstarzt. »Sie kann ich daheim anrufen, und Sie...«

»Ich bleibe noch ein Weilchen«, warf ich ein.

»Also beide vorerst hier erreichbar. Sicher gut. Ich wette, es wird Rückfragen geben. Sie wissen ja...« Er folgte den Trägem und schloß die Tür hinter sich.

Eigentlich hätte auch ich heimgehen sollen, meine Ärztepflicht war getan; aber ich packte nur meine Utensilien zusammen, zückte mein Etui und zündete mir auf Hartmanns Nicken hin eine Zigarette an. Er stand immer noch neben dem Fenster und blickte stumpf in den Novembemebel. Im Zimmer breitete sich unbehagliche Stille aus.

Ich sah mich um. Der Raum war durchgehend mit Holz getäfelt, ein anheimelnder Anblick mit einer Ausnahme. Neben dem Fenster, an dem Hartmann stand, war die Täfelung mannshoch abgesplittert, nacktes Mauerwerk schimmerte hindurch. Was hatte das zu bedeuten?

Was wußte ich von meinem Nachbarn? Wenig. Daß er um die Dreißig war, ein Typ, der nicht sichtbar altert. Daß er als unbedeutender Angestellter in irgendeinem Amt arbeitete. Daß er mit einer Frau zusammenlebte oder gelebt hatte Edith wußte von einem ernsten Zwist. Daß er nirgends in Erscheinung trat. Aber dies? Hatte er ein Verbrechen auf sich geladen? Die

Umstände sprächen dafür. Ich wußte keine Erklärung. War er etwa...?

»Sie irren, Doktor Wühler!« Hartmann sprach ruhig. Man hörte freilich, wie erkünstelt diese Ruhe war. »Ich bin weder verrückt noch abnorm. Zugegeben: Im Moment steht der Schein gegen mich. Aber das bedeutet nichts. Ich weiß mich schuldlos. Mir ist klar, daß die Polizei bald hier sein wird, um viele vorerst höfliche Fragen zu stellen. Darauf spielte Ihr Kollege ja vorhin an. Schätzungsweise löst die Einlieferungsuntersuchung in Ihrer Klinik den Mechanismus aus. Stimmt doch, nicht wahr?

Vorhin, als die Leute hier quirlten, fragte ich mich, ob ich selbst meinem Bericht Glauben schenken könnte. Leider nein. Was mir zustieß, ist so absurd... Hören Sie zu, Doktor, unterbrechen Sie mich nicht. Fragen mögen Sie anschließend.«

Ich setzte mich zurecht und hörte zu, wie Olaf Hartmann, nervös gestikulierend, von seinem Erlebnis erzählte.

Seufzend stapelte Olaf die Bücher in einer Ecke auf. Nachher würde er sie in die Regale zurückstellen. Den Samstagmittagputz der letzten Woche hatte noch Ingrid besorgt auf ihre Art konsequent, ehe sie auf Nimmerwiederkehr ging. Jetzt war er von neuem allein.

Er langte nach dem Staubtuch.

Ein Knall erschütterte die Luft. Die Doppelscheiben klirrten, in der Vitrine klangen die Weingläser.

»Diese verdammten Jagdflugzeuge!«

Olaf schaute hinaus, doch die niedrighängende Wolkendecke verbarg die Kondensspur. Die halbminutenlange vergebliche Suche beruhigte ihn, er schickte sie weiter zu putzen. Da entdeckte er es. Vermutlich infolge des Überschallknalls klaffte in der Täfelung zwischen den Fenstern ein breiter Spalt.

»Eine böse Bescherung!« Olaf wollte im ersten Impuls die Blumenbank verrücken, mit ihr das Holz festdrücken und zunächst alles beim alten lassen. Einen Atemzug später sagte er sich, daß das Unheil damit nicht beseitigt war. Der Spalt würde bleiben. Reparieren? Keineswegs er selber. Doch wo einen Handwerker finden, der sich auf so etwas verstand?

Besehen mußte er den Schaden in jedem Fall. Womöglich galt es nur, irgendwelche Schrauben einzudrehen; das vermochte auch ein Sachbearbeiter. Um die defekte Verankerung in Augenschein zu nehmen, zog er das Holz noch mehr ab. Das ging erstaunlich leise und leicht. Denn dahinter...

Dahinter öffnete sich ein Gang! Treppenstufen! Die Rückseite der Täfelung bestand aus einer Metallplattestahlfarbenfarben schimmerte und winzige Rostspuren aufwies. Zwei faustgroße Angeln lieferten den letzten Beweis: eine Geheimtür.

Olaf blickte aus dem Fenster neben der Tür in den dämmrigen Novemberhimmel. Träumte er? Gewiß, das Haus schien alt genug, um noch Geheimgänge zu beherbergen. Doch dies war die Außenmauer zumal in der zweiten Etage! -, und die bot keiner Treppe Raum; die Fenster an beiden Seiten dienten als Maßstab: zwanzig bis dreißig Zentimeter Stein. Andererseits war der Korridor ein Fakt. Oder eine Halluzination? Er kniff sich ins Bein. Das änderte nichts. Er griff in das Flaschenregal der Vitrine, nahm ein Glas und schenkte sich einen großen Bourbon ein. Das Glas geleert!

Immer noch da, die Tür...

Ihm war heiß geworden. Der Widerspruch zwischen zwei Tatsachen forderte ihn heraus. Er zog das Taschentuch hervor, betrachtete verständnislos den Knoten woran nur sollte er ihn erinnern? -, wischte sich den Schreckschweiß von der Stirn und trat vor den düsteren Gang. Mißtrauisch tastete er mit beiden Händen. Wahrhaftig, der Stollen führte voran und hinab; kein dreidimensionales Trugbild narrte ihn. Im übrigen

schien das selbstverständlich wer könnte solch ein Bild hinter der Täfelung verbergen und wozu?

Elf sauber gehauene, staubige Steinstufen, dann machte die Treppe eine Wendung und führte als leicht abschüssiger Gang weiter. Olaf blickte zaudernd zurück. Oben grüßte die halboffene Tür, unten lockte der Weg ins Ungewisse. Seine Neugier siegte. Urängsten zum Trotz ging er vorwärts. Obgleich unbeleuchtet, war der Stollen nicht vollständig dunkel. Man vermochte gerade zu sehen. Auch fand sich nirgendwo ein Hindernis.

Wieder eine Biegung, drei Stufen, Längst hatte er die Orientierung verloren, glücklicherweise gab es keine Seitengänge. Am Ende des Stollens mochte es heller sein; denn je weiter er zögernd schritt, desto deutlicher nahm er die Umgebung wahr. Boden, Wände und Decke bestanden aus grauen Steinplatten. Nirgends eine Lichtquelle, und doch eine gewisse Helle.